Diplomfeier der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW

Gratulation zum Erreichten

Referat von Ständerat Ernst Leuenberger, Solothurn, Freitag, den 05. Oktober 2007, Stadttheater Olten

Einige Gedanken zu Sozialarbeit aus dem Munde eines Politikers und Gewerkschafters; eines alt 68er gewiss auch, eines der sich aufgemacht hat auf den steinigen Weg durch die Institutionen.
Ich war lange Jahre als Gewerkschaftsprofi aktiv. Wir haben gelegentlich im Kollegenkreis gespottet, wir seien letztendlich bloss die Reparaturequipe des Kapitalismus oder das Rote Kreuz einer Wirtschaftsordnung voller Kälte, Rücksichtslosigkeit in einer Ellbogengesellschaft. Mag sein, dass Sie Ihre Arbeit gelegentlich ganz ähnlich erleben: Flicken, was der main stream an Geschädigten am Strassenrand liegen lässt. Nachholen, was überforderte Elternhäuser und eine hoffnungslos überlastete Schule nicht geschafft haben an Vermittlung von Regeln und Einsichten für das soziale Zusammenleben.
Folgen jener menschlichen Grund-Entäuschung reparieren, die daraus entsteht, dass eine trügerische Werbung an Schönheit, Reichtum, Erfolg und Coolness versprochen und vorgegaukelt hat, was dann nie erreichbar ist. Das landläufige Bild Ihres Einsatzes ist doch dieses: Die Gesellschaft setzt Sie dort ein, wo etwas nicht funktioniert und verlässt sich darauf, dass Sie die Mängel schnell und kostengünstig und selbstverständlich nachhaltig beheben.

Dabei träumen viele von Ihnen doch davon, gesellschaftsgestaltend zu wirken; beigezogen zu werden zur Ausarbeitung von Konzepten, von grossen Würfen.
Es scheint mir aber, dass diese ganz anderswo gemacht werden. Ich weiss nicht genau wo, ich war nämlich auch noch nie dabei.

Die Sozialarbeit ist eine relativ junge Disziplin, der gesellschaftliche Aufbruch um 1968 und die ökonomische Umgestaltung hat sie gross gemacht. Ironischerweise erinnere ich mich an 1968 als eine Zeit, wo man Sozialarbeit vor allem von Links kritisiert hat. "Hilf dir selbst, sonst hilft dir ein Sozi…" hat es in der antiautoritären Bewegung geheissen. Selbsthilfe, Autonomie, Antipsychiatrie hiessen die Schlagworte; auch eine fundamentale Kritik der Volksschule ging damit einher. Die Wege der Wortführer sind unterschiedlich verlaufen; nicht wenige arbeiteten dann im Sozialbereich. Man hat eben gelernt, mit Widersprüchen und Dialektik umzugehen.

Im Zuge der Jungendunruhen von 1980 akzentuierten sich diese kritischen Tendenzen noch; man wollte nicht ein Jugendzentrum mit Sozial- und Jugendarbeitern, man forderte ein AJZ - und zwar subito. Mittel- und längerfristig wurden viele Freiheiten möglich, nicht zuletzt wirtschaftliche Freiheiten. Doch als 1980, 81 die Träume der Jugendlichen sich zerschlugen - zerschlagen wurden - machten bei vielen die Heroinspritzen die Runde. Dazu vielleicht ein kleiner Exkurs: Wir, die Politiker und Staatsbürger in den 80er Jahren, mussten uns nicht zuletzt mit der Drogenfrage auseinandersetzen. Lange, für die Betroffenen sehr schmerzhafte Prozesse, führten schliesslich zum sogenannten Drogenkompromiss. Abgabe von sauberen Spritzen, Verschreibung von Heroin an Schwerstabhängige. Eine Politik, mit der die meisten relativ gut leben können. Die Junkies stören nicht nur weniger, es geht den meisten wirklich besser. Die Unterstützung "auf der Gasse" haben Sozialarbeiter geleistet, selten waren diese im Zentrum der Aufmerksamkeit. Um so wichtiger war und ist ihre Arbeit.

Noch einmal zurück zur letzten Jugendbewegung. Wie haben sich doch die Zeiten geändert. Niemand sprayt mehr die Parole "Macht aus dem Staat Gurkensalat!" an die Wand. Die Staatsabschaffer im neuen Jahrtausend haben andere Medien zur Verfügung. Nennen wir heute in dieser Feierstunde keine Parteinamen; Sie wissen, wer den Nachtwächterstaat will und von der "Sozialhilfeindustrie" spricht und tut als ob Sozialhilfemissbrauch die Norm und nicht die Ausnahme wäre.
Ich spreche zu Ihnen als Politiker. Sie verfolgen die aktuelle Politik, Sie wissen, wo die grossen Auseinandersetzungen stattfinden, die auch Ihre "Branche" angehen, auch wenn man während des Wahlkampfes oft den sprichwörtlichen Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht.

Wenn heute vom Sozialstaat die Rede ist, fehlt nie der erhobene Zeigefinger, der auf den Missbrauch deutet. Gewiss: Missbrauch ist ärgerlich, verwerflich; muss vermieden werden; gehört geahndet, bestraft, abgestellt. Darüber braucht man gar nicht lange zu diskutieren. Und diese Aussage gilt generell nicht nur für Empfänger/innen von Sozialleistungen.

Diese Sozialmissbrauchs-Diskussion lässt sich allerdings leicht in die politische Grosswetterlage einordnen:
Laute politische Wortführer betreiben ein übles Spiel: Sie nehmen aufgedeckte Missbrauchsfälle zum Anlass, das ganze System der Sozialhilfe, ja der Sozialversicherung zu diskreditieren. Schliesslich hat ja ihre Kampagne gegen die Scheininvaliden bereits Wirkung gezeigt. Sie werden dabei unterstützt von eilfertigen Medienschaffenden, die immer der Kuh mit den grössten Hörnern nachlaufen ohne sich zu fragen, wessen politisches Geschäft sie eigentlich betreiben. Die Perfidie dieses neuen Angriffs auf den Sozialstaat besteht darin, dass ein wirrer und teuflischer Mix aus populärer Ausländerfeindlichkeit und Sozialneid und dem Vorwurf des Sozialmissbrauchs zusammengeschustert wird.

Also sind wir bei der Missbrauchsbekämpfung. Jedes Sozialamt, jede Sozialversicherung muss personell so ausgestattet sein, dass die Gesuchsprüfung so gründlich erfolgt, dass Missbrauch sehr, sehr schwierig wird. Kontrollen müssen auch sein. Dass man deswegen gleich den Datenschutz für Sozialhilfe-Empfänger/innen eliminieren muss, überschiesst gewaltig. Vorbei sind die Zeiten, wo die Gemeindefürsorgekommissionen nach Sitzungsschluss noch im "Bären" hockten und die Fälle noch einmal Revue passieren liessen. Vorbei sein müssen die Zeiten als Arme lieber Hunger litten als sich bei der Sozialfürsorge zu melden. Vorbei sein sollen die Zeiten, wo man Arme an den Pranger stellte als mahnendes Beispiel für die sogenannt Braven.

Die Folgen der 5. Revision der Invalidenversicherung sind noch kaum präzise zu beschreiben. Der Schwerpunkt, der auf Eingliederung und Selbsthilfe gelegt wird, weckt bei mir alte 68er Reflexe und damit durchaus gemischte Gefühle. Die Selbsthilfe hat dort Grenzen, wo es um psychische Behinderungen geht. Da müssen geschützte Arbeitsplätze her - aber gerade Staatsbetriebe schaffen diese wegen des Kostendrucks ab. Und: Die Verkürzung der sozialpolitischen Diskussion auf die Missbrauchsbekämpfung ist kein brauchbarer Ansatz für eine gute Politik des sozialen Ausgleichs. Sozialer Ausgleich war, ist und bleibt ein Wesenselement der Eidgenossenschaft. Die öffentlichen Hände: Bund, Kantone und Gemeinden müssen die nötigen Mittel dazu zur Verfügung stellen und er daher auch die Einnahmen generieren können. Der Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen ist im Endeffekt ruinös.

Ein funktionierender "Service public", ein nicht-diskriminierendes Gesundheitssystem, eine Schule, welche nicht die Chancengleichheit untergräbt, Tagesschulen und mannigfaltige Sozialarbeit: das alles kostet Geld.
Patentrezepte gegen den Anstieg der Sozialausgaben wie eine Rückbesinnung auf die Familie oder Verwandtenhilfe greifen zu kurz. Viele nutzen diese Möglichkeiten, müssen diese Möglichkeiten auch nutzen. Ganz vielen aber reicht das nicht.
Gerade Gewaltprävention geht nicht nur die Familien an; zu oft ist gerade die Familie kein gewaltfreier Raum. Professionelle Sozialarbeit an Schulen ist nötig. Nötig ist auch Mitbestimmung der Schülerinnen und Schüler. Notwendig aber sind vor allem Zukunftsperspektiven. Lehrstellen, Ausbildungsplätze, Weiterbildungsmöglichkeiten. Lehrstellen lassen sich zwar nicht staatlich verordnen, aber fördern lassen sie sich schon. Während Wachstumsphasen der Wirtschaft sind zukunftsweisende Projekte möglich in der Umwelt- in der Arbeits- in der Sozialpolitik. Ob sich die Gewichte im Parlament in diese Richtung verschieben werden, sehen wir nach dem 21. dieses Monats.

Wir sind hier in Olten, ziemlich in der Mitte des goldenen Dreiecks Zürich-Basel-Bern und die Realität war wohl nie so zugespitzt, wie ich sie eingangs umrissen habe. Bei uns ticken manchmal die Uhren anders. Ich weiss noch gut, wie kleine und mittelgrosse Solothurner Gemeinden um Jugendarbeiter- und -häuser gekämpft haben und immer noch kämpfen müssen. Quartierspielplätze müssen betreut und unterhalten werden; Institutionen wie das "Alte Spital" in Solothurn, die soviel für die Integration Jugendlicher leisten, sind keine Selbstverständlichkeit. Diejenigen, die im Sozialbereich arbeiten, wissen das. Kaum einer oder eine im Sozialbereich Tätige spult einen 08/15 Job ab. Da ist viel Herzblut bei der Sache, viel Engagement. Sie, die Ihre Ausbildung jetzt mit Erfolg abgeschlossen haben, haben gerade darum diesen Weg gewählt. Behaupte ich jetzt einfach einmal.
Sie sehen, ich bin im Wahlkampf: die Katze kann das Mausen nicht lassen.
Dazu fällt mir immer der Satz von Herbert Wehner ein, der im Deutschen Bundestag nach einer wortgewaltigen Philippika ausgerufen haben soll:
"Verzeihen Sie mir meine Leidenschaft; ich würde Ihnen Ihre auch gerne verzeihen."
Ich bin ganz sicher, dass ich vielen von Ihnen viel Leidenschaft verzeihen könnte, dürfte, müsste, würden wir uns irgendwo irgendwann über den Weg laufen und in Diskussionen eintreten. Ich denke, Ihre Leidenschaft ist auch ein grosser Brocken Menschenliebe.
Ich habe als Nationalratspräsident 1998 bei der Verabschiedung von Bundesrat Delamuraz gesagt: Ein guter Bundesrat muss die Menschen gern haben.
Ich bin inzwischen zur Einsicht gelangt, dass dieser Satz auch für gute Sozialarbeiter/innen gilt.
Und noch eines: damals 1968 haben wir in Momenten tiefer Verzweiflung über das Geschehen immer ausgerufen: Wir sind historische Optimisten. Wir glauben nämlich daran, dass die Welt erschaffen wurde, um zu blühen und zu gedeihen und nicht um in Nacht und Chaos zu versinken.

Ihnen, den erfolgreichen Absolvierenden der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW wünsche ich spannende Jobs, viel Arbeit und noch mehr Befriedigung bei Ihrem Tun.

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