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Das Tao des Zugfahrens

Peter Bichsel und die Bahn fahrenden Schriftsteller

Unter den vielen Bahn fahrenden Schriftstellern ist der Solothurner Peter Bichsel der unbestrittene Meister. Er beherrscht die Kunst des doppelten Reisens.

Kürzlich setzten die SBB den "Roten Pfeil" für eine Extrafahrt von Solothurn nach Bern ein. Ehrengast war der 67-jährige Schriftsteller Peter Bichsel. Er hat in der Erzählung "Churchill und Onkel Jones" eben diesem Zug literarisch die Referenz erwiesen. Der kurze Text illustriert die Vergänglichkeit von Formeln und Begriffen. In Bichsels Jugend war der Rote Pfeil eine Art Kultfahrzeug, doch schon seine Schüler reagierten mit Unverständnis, als ihr Lehrer auf einer Schulreise mit dem Triebzug ins Schwärmen geriet.
Auf wenig Verständnis stösst auch "Der Mann mit dem Gedächtnis" - so der Titel einer anderen Erzählung zum Thema Eisenbahn - der den Fahrplan auswendig kennt. Da er von jedem Zug genau weiss, wann er wo ankommt, hält er das Reisen selber für überflüssig. Und er versucht vergeblich, die Passagiere von ihrem eitlen Tun abzuhalten. So leben beide Seiten in einem System von gegenseitig vermuteten Vergeblichkeiten, was für die Leserinnen und Leser durchaus anregend und amüsant ist.

Doppeltes Reisen
Die typischen Bichselgestalten sind oft einer skurrilen und nicht eben profitablen Idee verfallen, die sie konsequent in die Tat umsetzen. Etwa der Mann aus den Kindergeschichten, der die Dinge des täglichen Bedarfs umtauft, bis ihn keiner mehr versteht. Bichsels Figuren sind Ideologen und gleichzeitig AntiIdeologen. Ihr Angefressensein ist von scheinbar harmloser Natur. Es verführt nicht die Massen, aber es führt die Betroffenen in eine fast heitere Einsamkeit.
Wie jene des Fahrplanmannes finden Bichsels eigene Reisen im Kopf statt. Das hält ihn aber nicht davon ab, auch wirkliche Züge zu besteigen. In seinen besten Momenten tut er beides gleichzeitig. Ein paar Birken, die er am Jurafuss durch das Zugfenster im Nebel ausmacht, entführen ihn nach Sibirien. Statt mit den SBB ist er dann zusammen mit seinen Lesern mit der Transsibirischen Eisenbahn unterwegs. Bichsel reist im Zug im Kopf. Er beherrscht und zelebriert die Kunst des doppelten Reisens.
Auch ihm passiert es, dass er nicht verstanden wird, dass ein Leser findet, er habe ein "Gnusch im Fadechörbli". Für Bichsel ist das der Anlass, den Faden weiter zu spinnen und darüber zu philosophieren, dass weder der Jura noch die übrigen Berge an und für sich schön seien: "Auch der grossartige Anblick der Alpen findet in meinem Kopf statt." Doch so sehr er sich bemüht: Der Schriftsteller scheitert mit dem Versuch, sich die Alpen als erschrecken und hässlich auszumalen, wie sie den Leuten vor Albrecht Haller erschienen sind. Da stösst sogar die Reise im Kopf an Grenzen.

Im Raucherabteil
"Reisen bildet", könnte der Untertitel der Erzählungen und Kolumnen lauten, die im Bändchen "Eisenbahnfahren" versammelt sind. Dabei führen die Reisen nicht zu jenen Sehenswürdigkeiten, die im Baedeker mit zwei Sternen markiert sind, sondern in die Welt der Gedanken, der Verstellungen und Träume. Und unternommen werden sie selbstverständlich auf dem Schienenweg. Der im Eisenbahnerort Olten aufgewachsene Schriftsteller leistet sich seit Jahren ein Generalabonnement und sitzt in der zweiten Klasse. Im Raucherabteil, vermuten wir, den "Raucher sind gelangweitere Menschen und Langeweile gewohnt, man ziehe deshalb Raucherabteile vor..."
Bichsel ist mit seiner Leidenschaft für das Bahnfahren in guter Gesellschaft unter den Schweizer Dichtern. Von Walser über Glauser bis Cendrars, von Dürrenmatt bis Peter Weber haben alle über die Eisenbahn geschrieben und über die mit ihr verbundenen Dinge: die Liebe, den Abschiedsschmerz, über Gestalten, die auf die schiefe Bahn geraten und Tunnels, die nicht mehr aufhören. Über das Leben halt.

Nur für Meister
Für viele Schriftsteller und besonders für Peter Bichsel ist der Bahnwagen gleichzeitig Inspirationsquelle und Arbeitsraum. Man versteht sie. Denn wo sonst kann man die Menschen so unverblümt beobachten, ohne gliech aufzufallen? Höchstens noch im Bahnhofbuffet. Ausserdem - und hier schliesst sich der Kreis - gibt es keinen anderen Ort, in dem so viel gelesen wird, auch Literatur, wie in der Bahn. Im Compartiment treffen sich somit die dichter und ihre Leser. Allerdings sei "streng davon abzuraten, in Eisenbahnen Romane zu lesen, hier hat man sich selber einzufallen", schreibt Bichsel. Diese lektüremässige Enthaltsamkeit scheint schon die höhere Kunst; sie ist gewissermassen das Tao des Bahnfahrens und allein den Meistern vorbehalten.

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