Arbeit
und Verkehr - Ausgabe vom 19. April 2005
Netzzugang:
Interview mit SEV-Präsident Ernst Leuenberger zur aktuellen Kontroverse
«Wenn 38 Prozent Nominallohnunterschied kein Dumpingfall
sein soll, was bitte ist dann noch ein Lohndumpingfall?»
- Am 29.
März 2005 hat das Bundesamt für Verkehr (BAV) im Konflikt
um die Railion-Lokführer, die seit Anfang September 2004 unter
BLS-Flagge bis nach Erstfeld fahren, der BLS Recht gegeben. Das BAV
hielt fest, dass die Löhne der Railion-Lokführer, die gut
ein Drittel unter vergleichbaren Schweizer Löhnen liegen, kein
Lohndumping darstellen würden. Damit ist aber noch nicht endgültig
entschieden: Das Eidg. Departement für Umwelt, Verkehr, Energie,
Kommunikation (UVEK) stellt dazu vertiefte Abklärungen an, unter
Einbezug von Bundesarbeitsmarktbehörden (seco und tripartite
Kommission), Integrationsbüro, Eidg. Departement für Auswärtige
Angelegenheiten und Bundesamt für Justiz. Einen Entscheid hat
das UVEK bis Anfang Mai in Aussicht gestellt.
Der
SEV hat verlauten lassen, dass der Entscheid der Verwaltung in der Netzzugangskontroverse
die SEV-Haltung bei der Eidg. Volksabstimmung vom 25. September
über die Personenfreizügigkeit beeinflussen könnte. Gibt
es denn Hinweise aus der Basis, dass die SEV-Leute willens sind, deswegen
Nein zu stimmen obschon alle anderen Gewerkschaften Ja sagen
und die Freizügigkeit wirtschaftlich wichtig ist?
Mir ist
angekündigt worden, dass bei gleich bleibender Haltung der Verwaltung
(BAV) am SEV-Kongress Resolutionsanträge gegen die Ausdehnung der
Personenfreizügigkeit gestellt werden.
Treibt
der SEV da nicht ein gefährliches Spiel mit dem Feuer?
Das Spiel
mit dem Feuer ist offenbar Sache des BAV. Es gebärdet sich als
Arbeitsmarktbehörde ohne Konsultation der zuständigen Bundesarbeitsmarktbehörden
und produziert eine gefährliche politische Situation.
1998 schrieb
das Parlament ins Eisenbahngesetz: Wer eine Netzzugangsbewilligung erwerben
wolle, habe die «branchenüblichen Arbeitsbedingungen»
zu gewährleisten. (Eisenbahngesetz 9, 2, e). Im Dezember 1999 sagte
der Bundesrat auch in einer Motionsantwort (siehe Kasten), wie solche
Branchenüblichkeit etwa im Bahnbereich auszusehen habe: Der GAV
SBB stelle dafür einen «wesentlichen Massstab» dar.
Wir haben diesen Verlautbarungen geglaubt und zornig gestaunt, als am
31. August 2004 im Railion-BLS-Fall das BAV daherkam und behauptete,
das Eisenbahngesetz gelte nur für Inländer, nicht aber für
Bahngesellschaften aus EU-Ländern. Das sei 1999 im Landverkehrsabkommen
(LAV) so geregelt worden. Solches Verhalten einer Verwaltung zerstört
mutwillig Vertrauen, weckt Misstrauen.
Könnte
die Abstimmung über die Personenfreizügigkeit denn tatsächlich
gefährdet sein, wenn in der Schweiz arbeitende deutsche Lokführer
ein Drittel weniger verdienen als Schweizer?
Ja. Die
Leute werden sagen, wenn nicht einmal die hoch organisierten Eisenbahner
sich gegen die Dumping-Konkurrenz aus dem Ausland erfolgreich wehren
können; wie sollte das dann einer Verkäuferin in einem schlecht
organisierten Bereich gelingen? Wenn 38 Prozent Nominallohnunterschied
kein Dumpingfall sein soll, was bitte ist dann noch ein Lohndumpingfall?
Für
dieses Dumping hat aber das BAV bereits grünes Licht erteilt. Nun
will zwar das UVEK den Fall vertieft untersuchen. Kann dabei jedoch
überhaupt mehr als Flickwerk herauskommen?
Wenn Schäden
rechtzeitig entdeckt und geflickt werden, ist das der Sache nur dienlich.
Im Übrigen befinden wir uns mit den ganzen Arbeitnehmer-Schutzmassnahmen
gegen Lohn-Dumping durchwegs auf Neuland und müssen zuerst Erfahrungen
sammeln. Letztlich würde die Anwendung des geltenden Eisenbahngesetzes
vollauf genügen. Allenfalls wäre ein Konfliktchen mit Brüssel
in Kauf zu nehmen. Fachleute aus dem Staatssekretariat für Wirtschaft
(Seco) und EU-Diplomaten halten das für ein zu bewältigendes
Problem mit der EU. Wir müssen durchsetzen, dass die EU
trotz Landverkehrsabkommen unser Eisenbahngesetz respektiert.
Der
Fall scheint aussichtslos: Das LVA von 1999 sagt deutlich, ausländische
Bahnanbieter hätten hier freie Fahrt offenbar auch was ihre
Löhne angeht. Wie soll nun dieses schon vor Jahren vereinbarte
bilaterale Abkommen korrigiert werden?
Ob das
geltende Eisenbahngesetz anzuwenden ist, hat nicht das BAV zu entscheiden.
Dass das BAV seiner Interpretationssache nicht ganz so sicher ist, beweist
die Botschaft zur Bahnreform 2 vom 23. Februar 2005, wo neuerdings beim
Netzzugang klar unterschieden werden soll zwischen Bahnen mit Sitz in
der Schweiz und solchen mit Sitz in einem EU-Land.
Das LVA
ist in mancher Hinsicht Neuland, eine Branche, die beackert werden muss.
Der Interpretationsspielraum besteht. Die Behörden müssen
ihn nur ausschöpfen und nicht in vorauseilendem Gehorsam irgendwelche
unsinnigen Interpretationen erfinden, die nie in einer Botschaft standen,
die nie in einer parlamentarischen Kommission erörtert wurden,
die nie vor dem Parlament dargelegt worden sind.
Hat
man nicht schon beim Abschluss des LVA diese Auswirkungen abschätzen
können? Hat der SEV, oder wer hat damals versagt?
Das Eisenbahngesetz
wurde im Parlament beraten, als die Verhandlungen zum LVA auf Touren
liefen. Niemand von den Verhandlern hat damals den heute strittigen
Zusammenhang zwischen LVA und EBG je thematisiert. Die historische Wahrheit
wird eines Tages lauten: Das Landverkehrsabkommen (Zulassung von 40-Tonnen-LKW
usw.) wurde in den Verhandlungen über die Bilateralen I ganz stark
unter Druck genommen durch den Swissair- und Hochfinanz-Druck auf den
Bundesrat, subito ein für die Schweiz günstiges Luftverkehrsabkommen
abzuschliessen.
Was
fordert der SEV konkret, damit die Schweiz das offenbar eingeläutete
Lohndumping verhindern kann?
Wir verlangen
die Anwendung des Eisenbahngesetzes im Sinne, wie es 1998 beraten worden
ist, namentlich von Art. 9, 2, e. Wir verlangen, dass die bundesrätlichen
Versprechungen gegen Lohndumping, namentlich in der Motionsantwort vom
6. Dezember 1999, eingehalten werden. Wir verlangen, dass das Entsendegesetz
sinngemäss angewendet werden kann, auch im Bahnbereich. Wir verlangen,
dass das BAV einsieht, dass 38 Prozent Nominallohnunterschied einen
Lohndumping-Fall darstellt. Wir verlangen, dass das BAV mit dem Unfug
aufhört, die Ausländerlöhne «Kaufkraft»-bereinigen
zu wollen. Damit werden die flankierenden Massnahmen schlicht totgeschlagen.
SBB-Direktor
Benedikt Weibel sagte am 22. Januar 2005: «Die Effizienz eines
Bahnunternehmens ist viel entscheidender als das Lohnniveau».
Was sagt der SEV dazu?
Benedikt
Weibel spricht zu Recht die Frage an, wie wettbewerbsrelevant der Lokführerlohn
eines Güterzuges im Bahnwettbewerb ist. Es gibt ernst zu nehmende
Experten, welche die Wettbewerbsrelevanz des Lohnes als gering bezeichnen
und dafür auf die Bedeutung des Personaleinsatzes hinweisen. Das
meint Benedikt Weibel gewiss mit seinem Satz.
Verdrängt
der SEV letztlich nicht Transporteure von der Bahn auf die Strasse (Railion
hat dies schon angedroht)? Damit aber würde das Schweizer Verlagerungsziel
torpediert und der teure Bau der NEAT ad absurdum geführt
Zu den
Fakten: Railion besitzt ein sehr grosses Strassentransportunternehmen
«Schenker», das halb Europa bedient. Glücklicherweise
haben wir die Alpen ohne neuen Gotthardstrassentunnel, sodass vorläufig
Railion noch auf der Bahn transportieren muss. Der Strassengüterverkehr
lebt weitgehend von Sozial- und Sicherheitsdumping. Die Verlagerung
wird behindert durch schlechte Arbeitsbedingungen im Strassengüterverkehr,
durch zu wenig Kontrollen der Höchstgewichte, der technischen Sicherheit
der LKW, durch die fehlende Kontrolle der Arbeitszeiten, der Höchstgeschwindigkeiten
usw. Hier hat der Bundesrat echten Handlungsbedarf.
Auf
der Strasse gibt es weder Gesamtarbeitsverträge noch vertraglich
gesicherte Mindestlöhne
Es gibt
einzelne kantonale GAV. Ich lade die Arbeitnehmer des Strassengütertransportes
ein, sich gewerkschaftlich zu organisieren bei Unia und angemessene
Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Der SEV plädiert für
den Schutz schweizerischer Arbeitsplätze auch im Strassengüterverkehr,
plädiert für Kampf gegen ausländisches Lohndumping ebenfalls
in diesem Sektor. Es müsste auch das Ziel von BAV und UVEK sein,
die teilweise prekären, unmenschlichen Bedingungen im Strassengütertransport
zu bekämpfen, und nicht, die Arbeitsbedingungen der Eisenbahner
auf Strassenniveau zu senken, wodurch zudem die Sicherheit abnimmt.
Im Übrigen hätte der Bundesrat über den Erlass der Chauffeur-Verordnung
Möglichkeiten, die Arbeitsbedingungen der Lastwagenfahrer zu verbessern.
In erster
Linie und an vorderster Front aber wird sich der SEV nun für flächendeckende
Gesamtarbeitsverträge im Bahnbereich und deren Allgemeinverbindlicherklärung
einsetzen, insbesondere für die vom Netzzugangswettbewerb betroffenen
Normalspurbahnen. Damit werden die branchenüblichen Arbeitsbedingungen
eindeutig definiert sein.
Gibt
es auch bei Post und Telekom ähnliche Probleme?
Wie die
Motionsantwort des Bundesrats vom 6. Dezember 1999 deutlich zeigt, bestehen
die Probleme in allen drei Bereichen der ehemaligen Bundesbetriebe.
Den ersten hör- und sichtbaren Konflikt hat die Gewerkschaft Kommunikation
mit dem Telekomanbieter Orange in der Schweiz ausgefochten und dabei
mit dem BAKOM etwa die gleichen Erfahrungen gemacht wie wir mit dem
BAV. Die privaten Postanbieter sind auch noch nicht alle in Gesamtarbeitsverträge
eingebunden. Da liegen Probleme drin. So unterschiedlich sind die Verhältnisse
bei Post, Bahn und Telekom gar nicht.
Sind
die SEV-Forderungen nicht blauäugig? Europa findet statt und die
Schweiz ist mittendrin. Niemand glaubt heute noch ernsthaft, die hohen
Schweizer Löhne liessen sich auf Dauer halten.
Die Hochpreisinsel
Schweiz ist ein Faktum, das nicht durch die Arbeitnehmer geschaffen
wurde. Die Arbeitnehmer sind auch nicht die ersten Nutzniesser dieser
Hochpreisinsel. Es ist nicht auszuschliessen, dass sich mittel- bis
längerfristig in Europa Angleichungen des Preis- und in der Folge
des Lohnniveaus ergeben. Die deutsche Wiedervereinigung zeigt in diesem
Zusammenhang einiges auf. Für mich bleibt aber die zentrale Frage,
ob sich zuerst die Preise oder die Löhne bewegen. Darin liegt mehr
sozialer Zündstoff, als man sich landläufig vorstellt.
Mir fällt
übrigens Folgendes auf: Die Schweizerische Eidgenossenschaft baut
für Milliarden neue Eisenbahntunnel. Gebaut werden einige Abschnitte
durch ausländische Firmen mit ausländischem Personal, das
bei diesen Firmen nach ausländischem Recht angestellt ist.
Es ist
selbstverständlich, dass für diese Leute allesamt die schweizerischen
Arbeitsbedingungen gelten. Es ist noch keinem Wirtschaftsmann eingefallen
zu verlangen, dass die südafrikanischen Mineure zu südafrikanischen
Lohnbedingungen in Sedrun hätten graben müssen.
Immer
mehr Leute aus der Wirtschaft sagen (wenn auch hinter vorgehaltener
Hand), dass weitreichende flankierende Massnahmen wettbewerbsverhindernd
wirken, und nennen sie «puren Protektionismus».
Diese Wirtschaftsleute
möchte ich gerne öffentlich hören. Der Schweizer Arbeitnehmer
braucht Protektion gegen Lohndumping, weil er auf einer Hochpreisinsel
lebt. Diesen Wirtschaftsleuten erzähle ich gerne das Beispiel des
offensichtlich überteuerten Zements für den NEAT-Bau, wogegen
der Bundesrat, die WEKO, niemand etwas machen kann. Diesen Wirtschaftsleuten
kann man die überteuerten Düngerkäufe der Bauern zitieren
usw. usf.
Die
Sozialdemokraten wollen nach Europa. Europa verspricht den Ostländern
gleich lange Spiesse im Wettbewerb um etwas mehr Wohlstand. Solche Schutzmassnahmen,
wie die Schweiz sie trifft, widersprechen diesem Prinzip
Die Einigung
Europas ist eine grosse historische Leistung. Die Schweiz liegt mittendrin.
Ein Arrangement der Schweiz mit der EU drängt sich auf. Die neoliberale
Wettbewerbsideologie der aktuellen Eurokraten passt mir allerdings überhaupt
nicht. Die Wettbewerbs-freiheit riecht für mich immer ein wenig
nach «liberté de dormir sous le pont».
Fragen:
sev, mit Fragenkatalog von Bettina Mutter, Tagesanzeiger
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