
Work, März 2006
Lieber
Benedikt
Ernst Leuenberger zum angekündigten Rücktritt
seines Gegenspielers, SBB-Chef Benedikt Weibel
Viele Eisenbahnerinnen und Eisenbahner werden sich fragen, wie das weitergehen
soll ohne Dich an der Spitze der SBB. Einige werden sich wundern, dass
der SBB-Verwaltungsrat es sich leisten kann, die obersten Kader mit
59 oder 60 Jahren ziehen zu lassen. Dies in einer Zeit, wo Bundesräte
mit 63 (Christoph Blocher), respektive 61 (Hans-Rudolf Merz) neu in
den Bundesrat gewählt werden. So geschehen im Dezember 2003. Dies
in einer Zeit, in der Politikerinnen, Politiker und Wirtschaftskapitäne
die Erhöhung des AHV-Alters predigen. Ich wünsche dem Bundesrat
die Klugheit, dass er Dich als sportlichen und jugendlich wirkenden
60er möglichst bald in den Verwaltungsrat der SBB wählt. Dort
täte nämlich etwas mehr Eisenbahn-Knowhow sehr gut. Im Übrigen
könnte man auch sagen, was der französischen Staatsbahn SNCF
recht ist, kann den SBB nur billig sein. Dein SNCFVerwaltungsratsmandat
spricht für sich.
KECKER
BERGSTEIGER Wer hätte damals, 1961, als wir uns in einer
Klasse der Kanti Solothurn kennenlernten, gedacht, dass sich unsere
beruflichen Wege dreissig Jahre immer wieder kreuzen würden. Du
warst der kühne Bergsteiger; oft etwas keck. Ich politisierte schon
damals und erntete gelegentlich Deinen Spott. Du studiertest an der
Uni Bern Betriebswirtschaft, ich schlug mich mit Sozialwissenschaften
herum. Deinen Aufstieg bei den SBB habe ich sehr wohl verfolgt. 1989
Generaldirektor, 1993 Präsident der Generaldirektion. Ich kam 1993
zum Eisenbahnerverband SEV, übernahm 1996 das Präsidium auf
dem Höhepunkt eines sehr schwierigen Lohnkonflikts zwischen SBB
und Gewerkschaften. Du fandest, in der schwierigen Budgetsituation sei
den Eisenbahnern ein Lohnopfer von zwei Prozent zuzumuten. Ich war dagegen.
Ich ärgerte mich über Deine Idee und sagte es Dir auch. Du
hast mit dem finanzpolitischen Druck operiert. Den kannte ich wohl,
doch die Sanierungsmethode schien mir falsch. Wegen verschiedenster
Massnahmen mussten die Eisenbahner dann tatsächlich Einkommensverluste
hinnehmen. Keine gute Geschichte. Die Sanierung der SBB sei nötig,
weil sonst der Bund als Geldgeber nicht mehr mithalte. So hast Du argumentiert.
Du hast Dir aber auch den Kopf über verschiedenste Massnahmen zerbrochen.
Manche gefielen uns hinten und vorne nicht. Wir sahen aber, dass es
ohne Rationalisierungsmassnahmen offenbar nicht gehen würde. Wir
befürchteten massiven Stellenabbau. Den Begriff hast Du geprägt:
«contrat social». Eine Garantie für die SBB-Beschäftigten,
dass niemand wegen Rationalisierungsmassnahmen oder aus wirtschaftlichen
Gründen entlassen werden soll. Das Modell hat gehalten, es trägt
heute noch.
MUTIGER
CHEF Du hast über 10 000 SBB-Stellen in wenigen Jahren gestrichen.
Du hast Deine Leute angewiesen, jeden kleinsten Schritt mit der Personalvertretung
zu bereden und Lösungen zu suchen. Du hast fast missionarisch Deine
Eisenbahn-Schweiz mit Besuchen überzogen. Du hast Dich Deinen Leuten
aller Berufsgattungen im ganzen Land zu Gesprächen, abendfüllenden,
zum Teil hitzigen Gesprächen, gestellt. Du hast zugehört.
Du hast geduldig erklärt. Du hast um Zustimmung geworben und auch
nicht versäumt, darauf hinzuweisen, dass die grossen Projekte Bahn
2000 und Neat usw. nur finanziert werden können, wenn Du den Beweis
erbringst, dass Du echt sparst. Ich kenne keinen Chef eines Unternehmens
mit über 30 000 Beschäftigten, der sich dermassen an die Front
gewagt hat. Du hast – und das spürtest Du schon früh
– auf diese Weise die Herzen Deiner Leute gewonnen. Sie haben
Dir vertraut. Deine Glaubwürdigkeit wurde nie in Zweifel gezogen.
Die Eisenbahner merkten wohl, dass Du eine starke moderne Bahn wolltest;
dass Du für mehr Bahn gekämpft hast. Die Behörden –
immerhin die Kreditgewährerinnen – haben Dir auch vertraut,
weil Du es stets verstanden hast, Deine Anliegen auch in heiklen parlamentarischen
Kommissionsberatungen seriös und überzeugend zu vertreten.
Du hast auch die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger überzeugt.
Die gewonnenen Volksabstimmungen über die Bahn 2000, die FinöV
und die Neat sind auch Deine Erfolge.
KEIN
ABZOCKER Die Herzen des Schweizer Volkes flogen Dir zu, als
Du 2001 auf einen Teil des Dir vom Verwaltungsrat offerierten Lohns
verzichtet hast. Dies in einer Zeit, als die Abzocker richtig Urstände
feierten. Die Leute sagen, es seien in der Schweiz noch nie so viele
Züge mit so vielen Passagieren in der Schweiz gefahren wie am Ende
der Ära Weibel. Das ist wohl die höchste Auszeichnung, die
einem SBB-Chef zukommen kann.
DIE
LÖSUNG EXISTIERT Persönlich danke ich Dir dafür,
dass Du auch kleinste Personalprobleme ernst genommen hast. «La
solution existe» steht an Deiner Bürowand. Du hast viel dafür
getan, dass immer wieder eine Lösung gefunden wurde. Nachdem ich
meine Gewerkschaftsfunktion aufgegeben habe und mich mit Verkehrs- und
Finanzpolitik befasse, hoffe ich, noch oft auf Deinen Rat zählen
zu können. Die Verlagerung der Güter von der Strasse auf die
Schiene erfordert noch gewaltige Anstrengungen. Die S-Bahnen sind noch
nicht überall im Betrieb. Der zukünftige Betrieb der Neat
birgt noch einige Knacknüsse. Ich zähle mit Deinen Eisenbahnerinnen
und Eisenbahnern noch lange auf Dich.
Dein
Ernst Leuenberger
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