Berner Zeitung - Ausgabe vom 24. Mai 2005


EISENBAHNER-PRÄSIDENT ERNST LEUENBERGER
«Die Lohndrücker spielen
mit dem Feuer»

Ab heute findet in Bern der letzte Kongress des Eisenbahnerverbandes statt, bevor Ernst Leuenberger als SEV-Präsident abtritt. Der Kampf gegen deutsche Löhne auf Schweizer Schienen wird das Hauptthema sein.

Sie treten Ende Juni als Präsident des Eisenbahnerverbandes (SEV) zurück. Blicken Sie mit Wehmut dem heute beginnenden Kongress entgegen?

Ernst Leuenberger: Ich bin seit 32 Jahren Gewerkschaftssek-retär, davon 12 Jahre beim SEV. Ein Abschied ist immer von Wehmut erfüllt, aber auch von tausend Erinnerungen an hervorragende und tapfere Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter.

Wozu dient überhaupt eine solch lange Veranstaltung?

Jeder Kongress ist Rechenschaftsablage über die vergangenen zwei Jahre. Das tun wir im Sozialbericht. Zudem setzt jeder Kongress Zeichen für die Zukunft. Das wird in den Posi- tionspapieren getan.

Welches Thema steht an diesem Kongress im Vordergrund?

Als Schwerpunkt sehe ich die Forderung nach Branchenverträgen gegen Sozialdumping im öffentlichen Verkehr.

Diesbezüglich hat der SEV bereits BLS Cargo ins Visier genommen. Die BLS-Tochter fährt mit einzelnen deutschen Lokführern durch die Schweiz. Wollen Sie die Schweiz zur Lohninsel machen?

Im Eisenbahngesetz steht klar, dass eine Netzzugangsbewilligung erhält, wer die branchenüblichen Arbeitsbedingungen gewährleistet. Statt dass das Bundesamt für Verkehr (BAV) diese Bestimmung anwendet, verstecken sich die Helden hinter dem Landverkehrsabkommen und behaupten, das Eisenbahngesetz habe durch das Landverkehrsabkommen seine Wirkung verloren. Die Schweiz ist eine Hochpreisinsel. Folglich sind auch die Löhne etwas höher als in den Nachbarländern. Wenn das geändert werden soll, stellt sich die banale Frage: Was purzelt zuerst, die Preise oder die Löhne? Meine Antwort als Gewerkschafter dürfte klar sein.

Doch das ist kaum realistisch: Im Strassentransport fahren heute schon Chauffeure mit ausländischen Löhnen durch die Schweiz.

Wer heute wenige Monate vor der Volksabstimmung über die Ausweitung der Personenfreizügigkeit den Schweizer Eisenbahnern klar machen will, sie müssten ihre Löhne an die Löhne der Lastwagenfahrer aus Ungarn oder Polen anpassen, der spielt mit dem Feuer. Der Aufstand der Metzger in Deutschland sollte eigentlich klar zeigen, was da abgehen kann.

Was ist also zu tun?

Es wäre günstig, wenn der Bundesrat sich ernsthaft Gedanken machen würde, wie er das Schweizer Strassentransportgewerbe vor Dumping-Konkurrenz aus Osteuropa schützen will. Der Branchenverband Astag täte auch gut daran, sich in dieser Richtung Überlegungen zu machen. Es wäre auch möglich, das Entsendegesetz auf die ausländischen Strassentransporteure anzuwenden, wenn man bloss wollte.

Wird sich der SEV gegen die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit aussprechen, wenn der Bundesrat in dieser Sache nicht im Sinne des SEV entscheiden wird?

Der SEV wartet geduldig darauf, dass der Bundesrat festhält, das Eisenbahngesetz gelte und sei anzuwenden – ohne Wenn und Aber. Wenn der Bundesrat das nicht schafft, werden sich die Eisenbahner einiges überlegen müssen im Hinblick auf die Abstimmung über die Personenfreizügigkeit vom September.

Sie drohen, der Eisenbahnerverband könnte eine Ablehnung der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit empfehlen?

Bundesrat Moritz Leuenberger wird sich an unserem Kongress zu Fragen der Bekämpfung von Lohn-Dumping im öffentlichen Verkehr äussern. Von seinen Ausführungen wird sehr stark abhängen, ob die sensibilisierte Eisenbahnerbasis nach den negativen Erfahrungen mit dem BAV in Sachen BLS Cargo immer noch findet, der Bundesrat nehme ihre Sozialdumping-Ängste ernst genug oder eben nicht.

Sie treten Ende Juni nach vielen Jahren als SEV-Präsident ab. Was war Ihr grösster Erfolg?

Zweifellos der Abschluss eines guten SBB-GAV als Ablösung für das Beamtengesetz.

Und was war Ihr grösster Misserfolg?

Wie erwähnt: Die Weigerung des Bundesamts für Verkehr, die strengen Netzzugangsbestimmungen nach dem Eisenbahngesetz auch wirklich anzuwenden und durchzusetzen.

Bei der Ascoop-Pensionskasse fehlen über 600 Millionen, bei der SBB-Pensionskasse rund zwei Milliarden. Trägt der SEV hier eine Mitverantwortung?

Beide Pensionskassen haben eine Unterdeckung aus sehr vielfältigen Gründen. Die Ausgliederung der SBB-Pensionskasse aus dem Bund ohne genügend Reserven war eine Batzenklemmerschlaumeierei der Bundesfinanzer; die meinten, mit «Privatisierung» – das heisst Ausgliederung – liesse sich Geld sparen. Im Übrigen hat die bürgerliche Ideologie voll versagt, dass über die Anlage von Pensionskassengeldern in Aktien die Arbeitgeber von der Verantwortung für den Teuerungsausgleich auf den Renten voll entbunden werden könnten. Die SEV-Vertreter haben stets darauf hingewiesen.

Doch bei der Ascoop hat der Stiftungsrat versagt.

Die Unterdeckung bei der Ascoop ist auch auf waghalsige Anlagen zurückzuführen, die durch das Kassenmanagement zu verantworten sind. Wenn das Management nicht vollständig informiert, hilft die beste Gewerkschaftsunterstützung für Stiftungsräte wenig.

SBB-Chef Benedikt Weibel verdient mittlerweile 600 000 Franken. Erzürnt Sie dies noch?

Herr Weibel erhielt damals im Jahr 2001 vom Verwaltungsrat viel mehr angeboten. Dagegen habe ich bekanntlich öffentlich protestiert. Herr Weibel hat auf viel Geld verzichtet. Ich kann nur respektvoll den Hut ziehen vor diesem Verhalten.

Doch der Lohn des SBB-Chefs ist kein Thema mehr. Der SEV hat eine Angriffsfläche verloren.

Politische Themen kommen und gehen wie die Frühlingsmode. Wahr ist, dass ich nie verstehen werde, weshalb Chefs von Bundesbetrieben mehr verdienen sollen als Bundesräte; und mit dieser Meinung bin ich nicht allein. Manager in der Privatwirtschaft überziehen bei ihren Löhnen aber derart, dass selbst hohe Topkaderlöhne in Bundesbetrieben dagegen verblassen.

Sie bleiben als Vertreter des Kantons Solothurn im Ständerat. Sind Sie offen für neue Ämter?

Die derzeitige Amtsdauer geht bis Ende 2007. Ich werde dieses Mandat mit Engagement ausüben, so lange das Solothurner Volk es mir anvertraut. Was nach 2007 sein wird – immerhin bin ich dann mit 62 noch nicht uralt – wird sich weisen. Neue Jobs suche ich eigentlich nicht. Ich bin inzwischen Grossvater geworden; auch das ist eine intensive Aufgabe.

Ernst Leuenberger (60) ist seit 1997 Präsident des Schweizerischen Eisenbahnerverbandes (SEV). Von 1983 bis 1999 sass der Solothurner als SP-Vertreter im Nationalrat, den er im Jahr 1998 präsidierte. Danach wechselte er in den Ständerat, dem er auch heute noch angehört. Er tritt Ende Juni als SEV-Präsident ab. Sein designierter Nachfolger ist der jurassische SP-Ständerat Pierre-Alain Gentil. Die Wahl findet heute am SEV-Kongress statt.


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