Coop Zeitung, Nr. 28 / 11. Juli 2001

"Die Lage ist wirklich dramatisch"

INTERVIEW: DANIEL SAEGESSER

Gewerkschafter und Ständerat "Aschi" Leuenberger zur SBB-Personalknappheit, zur Verantwortlichkeit für Fehlplanungen und Lohnforderungen.

Coopzeitung: Ist Lokführer noch ein Traumberuf?

Ernst Leuenberger: Ja, grundsätzlich schon. Nur haben die Verantwortlichen der SBB es während der letzten 20 Jahre geschafft, diesen Traum mutwillig zu zerstören.

Wie das?

Dafür gibts verschiedene Gründe. Einmal die Personalplanung der SBB, die davon ausgeht, dass zu viele Leute beschäftigt sind. Im Februar 1999 prognostizierten die SBB zum Beispiel, dass es Ende 2001 350 überzählige Lokführer geben werde. Nun haben wir Mitte 2001 - und es fehlen 200 ... Dann der Entscheid, die SBB in Divisionen aufzuteilen und das Personal stur einer dieser Divisionen zuzuteilen. Dadurch wird die Arbeit monoton und laugt die Leute aus. Früher war die Arbeit bereichernd abwechslungsreich, mal fuhr ein Lokführer einen Schnellzug, mal einen Personenzug, mal einen Güterzug.

Und wie steht es mit den Löhnen?

Auch die Löhne wirken desillusionierend: Seit 1991 erhielten die SBB-Angestellten keine Reallohnerhöhung und seit 1996 auch keinen Ausgleich der Teuerung mehr. Das SBB-Personal hat gegenüber 1996 einen Reallohnverlust und durch Streichung von Zulagen auch einen Einkommensverlust erlitten. Gemäss Ihren Schätzungen sind bei den SBB 1000 Stellen nicht besetzt. Die SBB sprechen von 500 bis 700. Die SBB wissens wohl selbst nicht genau. Deshalb machen sie widersprüchliche Angaben.

Sie wissen es besser?

Seit 1991/92 sind bei den SBB 10 000 Stellen abgebaut worden, Personal wurde bereits mit 58 Jahren frühpensioniert. Wir haben den Unterbestand von 1000 Leuten über nicht bezogene Ferien- und Ruhetageguthaben und mittels Befragung unserer Vertrauensleute errechnet. Zur finanziellen Kompensation von Zeitguthaben stellten die SBB 1999 60 Millionen Franken zurück. Ende 2000 betrugen diese Rückstellungen bereits 122 Millionen Franken und im Verlauf dieses Jahres hat sich die Situation nochmals massiv verschärft.

Welches Personal fehlt neben den Lokführern?
Es fehlt in allen Berufen. Allein im Verkauf fehlen mehrere hundert Leute. Das führt zu Schalterschliessungen oder verkürzten Öffnungszeiten. Es mangelt auch an Fahrdienstangestellten in den Stellwerken, an Reinigungs-, Reparatur- und Zugpersonal.

Was heisst das konkret?
Alle SBB-Leute sind an Phasen starker Belastung gewöhnt und auch bereit, während ein paar Monaten Ausserordentliches zu leisten. Aber nun soll diese Phase bis Ende 2002 dauern. Die Situation ist wirklich dramatisch. Nur weil die Leute ihren Berufsstolz haben und bis an die Grenze des Zumutbaren gehen, rollen die Züge dennoch. Das Personal muss die Fehlplanungen ausbaden und bis zum Umfallen arbeiten.

Ist das ein Risiko für die Sicherheit?
Ich hoffe, dass wirklich nichts geschieht. Alle Eisenbahner leisten alles nur Erdenkliche, damit nichts Schlimmes passiert. Aber es gilt das Prinzip Hoffnung ...

War der Unterbestand an Personal für die SBB-Verantwortlichen tatsächlich absehbar?
Ja. Wir haben seit September 1999 mit den SBB hinter den Kulissen verhandelt. Sie wolltens nicht glauben. Gewiss kann nicht alles im Voraus abgeschätzt werden. Aber dass die Expo Mehrverkehr bringt, war voraussehbar. Und dass ab dem 10. Juni 2001 der Fahrplan ausgebaut würde, war ebenso sicher.

Wer trägt dafür die Verantwortung?
Der SBB-Verwaltungsrat trägt die Hauptverantwortung. Dieser hat die strategische Führung inne und macht dem Management Vorgaben.

Und die heissen ...
... Kosten senken! Bei einem Betrieb, bei dem die Kosten fürs Personal 50 Prozent ausmachen, ist das fatal. Der VR hat nicht aufgejault und interveniert, als er von den erwähnten Rückstellungen für finanzielle Zeitkompensationen Kenntnis erhielt.

Was halten Sie von SBB-Verwaltungsratspräsident Thierry Lalive d' Epinay?
Er sollte sich aus dem Operativen heraushalten und sich auf sein Geschäft beschränken. Er ist - um es freundlich zu sagen - unbedarft und sollte zwischendurch ganz einfach schweigen. Nicht von ungefähr hat ihm das Parlament unsensibles und unpsychologisches Agieren vorgehalten.

Und wer ist politisch verantwortlich?
Der Bundesrat. Als Vertreter des Schweizer Volks als SBB-Eigentümerin sah er keinen Handlungsbedarf, hat den VR hoch gelobt und ihm dadurch Décharge erteilt. Das ärgert mich!

Was schlagen Sie vor, was müssten die SBB tun, um die Lücken im Personal schliessen zu können?
Sie müssten die Löhne an-, die Divisionalisierung aufheben - die Berufe würden wieder abwechslungsreicher - und endlich aufhören, öffentlich über zu viel Personal zu jammern. Die Abbausze-narien schaden der Attraktivität und gehören definitiv vom Tisch. Die schaden dem Image ungemein. Wer will denn schon dort arbeiten, wo immer von Personalabbau gesprochen wird?

Die SBB wollen in England Regionallinien managen. Was halten Sie davon?
Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn ist dringend notwendig. Aber mir ist unverständlich, was die SBB in Grossbritannien verloren haben wollen.

Die SBB wollen mit ihrem Engagement Know-how erwerben.
Lernen könnte man auch mittels Personalaustausch. Aber da ist nichts zu lernen. Die maroden britischen Bahnen sind unter jeder Kritik. Zudem wird in England verlangt, dass Konzessionäre auch in die Infrastruktur inves-tieren. Das wären Hunderte von Millionen; für die SBB wie den Bundesrat zu teuer. Meine Kritik am England-Engagement der SBB ist deshalb eigentlich nichts anderes mehr als Leichenfledderei.

Verdienen SBB-Chef Be- nedikt Weibel und SBB- Verwaltungsratspräsident Thierry Lalive d' Epinay zu viel?
Die 70 obersten Kaderangehörigen der SBB unterstehen dem GAV nicht ... Deren Löhne interessieren mich mehr als Politiker denn als Gewerkschafter. Deren hohe Löhne bringen das Lohngefüge des Bundes durcheinander. Und es geht natürlich nicht an, dass das Topkader plötzlich erheblich mehr ver-dient, aber den übrigen Angestellten nichts gegeben werden soll.

Wie viel verdienen Sie?
Brutto knapp 190 000, netto 166 000 Franken. Darin inbegriffen sind auch die Abgeltungen von Bund und Kanton Solothurn für das Ständeratsmandat von knapp
50 000 Franken.

Sie fordern fünf Prozent mehr Lohn für die SBB-Angestellten. Werden Sie das erhalten?
Gerade wegen der Lohnfrage ist die Fluktuation beim Personal hoch. Wir werden nach der Sommerpause sehr intensiv darüber verhandeln. Unsere Forderung ist angemessen: eine Reallohnerhöhung von drei Prozent und zwei Prozent Teuerung, die seit 1996 aufgelaufen ist.

Was geschieht, wenn Sie Ihre Forderung nicht durchsetzen können. Werden die Bähnler streiken?
Der GAV ist bis Ende 2003 gültig und schreibt die Friedenspflicht vor. Wir werden also den Weg der Verhandlungen gehen. Aber ich bin leider nicht der Einzige, der entscheidet, mit welchen Massnahmen wir die Lohnverhandlungen begleiten werden. Es gibt da ein ganzes Repertoire.

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