Wiedereinführung der Armenjagden im 21. Jahrhundert?

Oder wie man den Sozialstaat, die Sozialversicherungen, die Sozialpolitik demontiert unter Beifall breitester Kreise und keiner merkt, was geschieht.

Ständerat Ernst Leuenberger, Solothurn

Gewiss: Missbrauch ist ärgerlich, verwerflich; muss vermieden werden; gehört geahndet, bestraft, abgestellt. Darüber braucht man gar nicht lange zu diskutieren. Und diese Aussage gilt generell nicht nur für Empfänger/innen von Sozialleisten. Missbrauchsbekämpfung gilt für alle Subventionen, für die Vergaben öffentlicher Aufträge (Bau z.B; Kauf von Rüstungsgütern z.B.) Nicht zu reden vom Unfug, der mit gewissen Steuerabzügen betrieben wird.

Diese Sozialmissbrauchs-Diskussion lässt sich allerdings leicht in die politische Grosswetterlage einordnen:
Laute Wortführer der äusseren politischen Rechten betreiben ein übles Spiel: Sie nehmen aufgedeckte Missbrauchsfälle zum Anlass, das ganze System der Sozialhilfe, ja der Sozialversicherung zu diskreditieren. Schliesslich hat ja ihre Kampagne gegen die Scheininvaliden bereits Wirkung gezeigt. Sie werden dabei unterstützt von eilfertigen Medienschaffenden, die immer der Kuh mit den grössten Hörnern nachlaufen ohne sich zu fragen, wessen politisches Geschäft sie eigentlich betreiben. Die Perfidie dieses neuen Angriffs auf den Sozialstaat besteht darin, dass ein wirrer und teuflischer Mix aus populärer Ausländerfeindlichkeit und Sozialneid und dem Vorwurf des Sozialmissbrauchs zusammengeschustert wird. Und dass die SVP endlich von den grossen Abzockern in der Wirtschaft ablenken muss, liegt auf der Hand. Dass die SVP auch davon ablenken muss, dass Teile ihrer Klientel wirklich vom Staat, von Steuergeldern leben, ist auch klar.

Also sind wir bei der Missbrauchsbekämpfung. Jedes Sozialamt, jede Sozialversicherung muss personell so ausgestattet sein, dass die Gesuchsprüfung so gründlich erfolgt, dass Missbrauch sehr, sehr schwierig wird. Kontrollen müssen auch sein. Dass man deswegen gleich den Datenschutz für Sozialhilfe-Empfänger/innen eliminieren muss, überschiesst gewaltig. Vorbei sind die Zeiten, wo die Gemeindefürsorgekommissionen nach Sitzungsschluss noch im "Bären" hockten und die Fälle noch einmal Revue passieren liessen. Vorbei sein müssen die Zeiten als Arme lieber Hunger litten als sich bei der Sozialfürsorge zu melden. Vorbei sein sollen die Zeiten, wo man Arme an den Pranger stellte als mahnendes Beispiel für die sogenannt Braven. Wir leben im 21. Jahrhundert; und die Armenjagden aus dem später 18. und frühen 19. Jahrhundert müssen Geschichte bleiben.

Wenn ich nun in einer Zeitung lese "Sozialhilfe" - "Wer alles vom Staat lebt", dann platzt mir am 11. August 2007 der Kragen.. Da werden plötzlich den Ergänzungsleistungsbeziehenden ihre EL vorgerechnet. 12% der Pensionierten seien Nutzniesser. Meine zornige Frage an die Schreiber solcher Zeilen: Haben Sie jemals ein Formular für Ergänzungsleistungen ausgefüllt? Haben Sie bemerkt, wie der Staat alles, aber wirklich auch alles vom Gesuchstellenden wissen will. Jeder Sparbatzen muss angegeben werden. Wenn Missbrauch schwierig, ja unmöglich ist, dann sicher bei den Ergänzungsleitungen. Uebrigens hätte dieser Schreiber ja auch erklären können, weshalb es Ergänzungsleistungen gibt. Ursprünglich war geplant, die AHV und IV plus BVG so auszugestalten, dass die gewohnte Lebenshaltung fortgesetzt werden kann (Bundesverfassung Art. 113). Da dieses Ziel bei weitem nicht erreicht werden konnte, wurde die EL (Ergänzungsleistungen) begründet.

Eigentlich wäre hier eine Glosse fällig: wer alles vom Staat lebt: In der vergangenen Junisession der Räte stand die Bundessubvention für die Verbillgung der Zeitungstransporttaxen zur Diskussion. Sollten dafür 80 Mio pro Jahr oder 50 Mio aus dem Bundessäckel bezahlt werden. Dreimal raten, was die Zeitungsverleger verlangt haben: den höheren Betrag. Beschlossen wurden dann am Ende 50 Mio. Dies als apropos: Wer alles vom Staat lebt. Dass die gleichen Zeitungsverleger ungefähr zur gleichen Zeit beim gleichen Bund antichambriert haben für SRG- Gebührenanteile für ihre Privatradios und Privatfernsehen, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
Einige Zeitungsverleger kommen mir vor wie jene greisen Funktionäre von millionenschweren Sportverbänden, die für die Doping-Bekämpfung lauthals nach staatlichen Geldern rufen und sie auch erhalten werden, weil selbst wirtschaftsliberale Politiker plötzlich ihr ordnungspolitisches Kredo wegwerfen und sehr etatistisch werden können.

Die Verkürzung der sozialpolitischen Diskussion auf die Missbrauchsbekämpfung ist kein brauchbarer Ansatz für eine gute Politik des sozialen Ausgleichs. Und sozialer Ausgleich war, ist und bleibt ein Wesenselement der Eidgenossenschaft.
Wir Sozialdemokraten/innen haben gute Gründe, für den Sozialstaat, für die Sozialversicherungen, für die moderne Sozialhilfe einzustehen. Dafür zu kämpfen. Wir sind aufgerufen, dafür zu sorgen, dass die Proportionen gewahrt bleiben. Das Kind darf nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden. Armenjagden mit oder ohne Sozialdetektive lassen wir nicht zu. Eindimensionalen Publizisten zeigen wir Fakten und Zusammenhänge auf. Ich erwarte auch von den politisch Verantwortlichen der Sozialhilfe in den Kantonen klärende Worte. Ich habe leider die Konferenz der kant. Sozialdirektoren noch nicht gehört. Ich höre auch nicht sehr viel von den Leitern/innen der Sozialämter. Gar nichts höre ich aus dem Hause Couchepin, das die Schirmherrschaft über die Sozialwerke innehat.

Wer jetzt noch schweigt, schadet dem sozialen Ausgleichs und stellt sich auf die Seite der Sozialdemonteure. Wir schweigen nicht.

Erschienen im "links.ch", August 2007


MedienKontaktGaestebuchArchivLinks