Referat zum 1. Mai 2002 in Burgdorf / BE

Ständerat Ernst Leuenberger, Präsident SEV, Solothurn

Es gilt das gesprochene Wort!

Der Grundgedanke der Maifeierbewegung hat auch nach über 100 Jahren seine Gültigkeit nicht verloren und das erst recht unter Bedingungen einer zunehmend globalisierten Wirtschaft: Sozial Schwächere können ihre Rechte nur erkämpfen, wenn sie sich international zusammenschliessen. Solidarisches Verhalten ist gefragt über alle Grenzen von Staaten, Sprachen, Religionen, Rassen und Kontinenten hinweg.

Am Internationalen Arbeiterkongress von 1889 in Paris ging es darum, die heillos zerstrittene internationale Arbeiterbewegung hinter mindestens einer einheitlichen Forderung zusammenzubringen. Man schrieb die Erkämpfung des 8-Stunden-Tages auf die Transparente und einigte sich darauf, inskünftig jährlich am 1. Mai für diese Forderung in allen Ländern zu demonstrieren.

Wichtig war und ist die Erkenntnis, dass diese Forderung nur eine Chance haben konnte, wenn sie weltweit erhoben und durchgesetzt wird. Das Argument der Gegenseite, die Konkurrenzfähigkeit werde bei der Gewährung von Arbeitszeitverkürzungen nur in einem Land dort massiv beeinträchtigt entfiele damit automatisch.

So steht denn seit jenen Tagen der Gedanke der internationalen Solidarität im Zentrum aller sozialen Bewegungen, die sich zur Maifeierbewegung zählen.

Solidarität üben ist schwierig. Solidarität ist nur dann etwas wert, wenn sie auch etwas kostet. Das braucht nicht unbedingt Geld zu bedeuten. Es kann auch eine Anstrengung sein, anderen beizustehen, andere zu akzeptieren. Schritte unternehmen zu andern, zu Unbekannten, zu Fremden. Das alles gehört dazu. (Solidarität heisst teilen)

Solidarität üben heisst damit schlicht und einfach teilen, teilen lernen.

Wir alle wissen aus unseren Kindheitstagen, auch aus unserer Erziehungsarbeit als Eltern oder Grosseltern, wie schwierig es ist, teilen zu lernen. Aber wir wissen auch, wie wichtig es ist zu teilen. Schwieriges Teilen bei einer Gegenmentalität: "Selber essen macht fett", " Wenn jeder für sich selber schaut, ist für alle gesorgt."

  • Wir können Arbeit teilen. Arbeit kann besser verteilt werden. Arbeit und damit Erwerbseinkommen können besser, gerechter aufgeteilt werden auf alle Köpfe und Hände.
  • Einkommen kann geteilt werden mit Einkommenslosen. Das kann auch heissen, dass ich Sozialversicherungs-prämien bezahle, damit eine anständige Arbeitslosen-versicherung möglich wird für die Betroffenen.
  • Es kann auch heissen, dass ich bereit bin, das Stimmrecht zu teilen, mit denjenigen, die kein Stimmrecht haben.
  • Das heisst auch, sauberes Wasser und saubere Luft, ja ein Stück intakter Natur teilen mit unseren Nachfahren, auch den noch Ungeborenen. (Solidarität heisst auch Kampf gegen jegliche Diskriminierung)

Das muss heissen, dass ich nicht zulasse, dass in meiner Umgebung diskriminiert und unterdrückt wird. Das muss heissen, Zivilcourage zu haben und einzuschreiten. Unsere Solidarität hat all jenen zu gelten, die unterdrückt und verfolgt werden. Unsere Solidarität gilt weltweit denjenigen, die heute nicht wissen, was sie morgen ihren Kindern zu essen geben sollen. Unsere Solidarität gilt denjenigen, die auch bei uns, hier und jetzt bedrückt und verzagt sind und keine Zukunft vor sich sehen. Wer von Solidarität spricht, muss jenen politischen Kräften die Stirne bieten, die nichts als Egoismus, Eigennutz und Ausgrenzung anderer im Sinne haben.

Wenn auch in der Schweiz die äusserste Rechte Wahlerfolge feiert, die auf der Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger beruhen, nachdem man zuerst durch Angstmacherei die Leute verunsichert hat, ist dieser Zustand alarmierend und verlangt entschieden Gegensteuer. Die Gewerkschaften, die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter; die politischen Parteien im rot-grünen Bereich, mit echt liberalen bürgerlichen Kräften müssen heute entschieden aufstehen gegen den Rechtspopulismus der professionellen Vereinfacher.

Wer mit Fremdenfeindlichkeit Stimmung macht und so Wahlen gewinnt, spielt mit dem Feuer. Wir sind als Feuerwehr gefragt, wir alle. Und noch eines: Wenn vereinzelte Strategen der bürgerlichen Mitte meinen, durch Nachgiebigkeit könne man diesen Kreise Meister werden, täuschen sie sich gewaltig. Nur eine klare Haltung bewahrt die Grundlagen des eidgenössischen Zusammenlebens, die da heissen: sozialer Ausgleich, friedliches Zusammenleben der Sprach-und Kulturgemeinschaften. (Bürgerliche und Wirtschaftskapitäne wollen nicht teilen)

Marcel Ospel, Chef der UBS, kassiert 12,5 Mio Franken pro Jahr, eine Million pro Monat, 60'000 Fr. pro Arbeitstag. An einem Tag so viel wie durchschnittliche Lohnabhängige im Jahr, und doppelt so viel wie noch immer manche sog. "working poor", Leute, die arbeiten und trotzdem arm sind, im Jahr verdienen. Von "verdienen" kann man bei einer Million pro Monat nicht sprechen.

Auch das Wort Selbstbedienung beschönigt den Sachverhalt. Die Bezüge der Barnevik, Ospel und Konsorten bedeuten nichts anderes als Plünderung, Diebstahl - oder Aneignung im Sinne der ursprünglichen Akkumulation, jedenfalls das Gegenteil der Interessen der Unternehmen, die zu führen sie eigentlich verpflichtet sind. Ein Verhalten, bei dem einfachere Leute, wenn es um bescheidenere Summen geht, hinter Gittern landen.

Zur Schamlosigkeit der Manager gibt es ein politisches Begleitprogramm: Die Senkung der Steuern für die Reichen, und jetzt neu die Befreiung der hohen Löhne - der Löhne über 106'000 Franken - von Beiträgen an die Arbeitslosenversicherung, begleitet von der Bestrafung der Langzeitarbeitslosen durch die Kürzung der Bezugsdauer für die Taggelder um ein halbes Jahr. Bei der Schaffung der AHV 1947 war es noch selbstverständlich, dass auf allen Einkommen - auch den höchsten - AHV-Beiträge bezahlt werden müssen, obwohl niemand mehr als die Maximalrente erhalten kann. Diese Solidarleistung der Reichen ist auch heute nötig.

Steuergeschenke und Beitragsgeschenke für die Ospels, Leistungsabbau bei den Arbeitslosen: Dieses politische Programm von FDP, SVP und CVP bekämpfen wir mit dem Referendum gegen die Revision der Arbeitslosenversicherung. (Kampf gegen den Taggeld-Abbau in der Arbeitslosenversicherung)

Viele von Euch wissen, was Arbeitslosigkeit ist. Ihr wisst, was der Kampf für Arbeitsplätze bedeutet, und was es heisst, auf die Arbeitslosenversicherung angewiesen zu sein. Eine Versicherung muss funktionieren, wenn das versicherte Risiko eintrifft. Das Risiko Langzeitarbeitslosigkeit ist für die Betroffenen, für ihre Familien eine soziale, eine psychische und eine finanzielle Katastrophe.

Umso wichtiger ist es, dass wenigstens die Arbeitslosenversicherung funktioniert, erst recht, wenn die Arbeitslosigkeit länger dauert. Die Urheber des Abbaugesetzes spekulieren darauf, dass die Langzeitarbeitslosen ja nur Minderheit, eine verhältnismässig kleine Minderheit der Bevölkerung sind. Aber schon einmal, beim Abbau der Taggelder der Arbeitslosenversicherung vor fünf Jahren, haben sich die Sozialabbauer verrechnet, stand die Mehrheit in der Volksabstimmung nicht auf der Seite der geschlossenen bürgerlichen Parteien, sondern auf der Seite der sozialen Bewegungen, auf der Seite der Solidarität mit der Minderheit der Arbeitslosen.Genauso wie beim erfolgreichen Referendum gegen die von den Bürgerlichen beschlossene Abschaffung der Viertelsrenten in der Invalidenversicherung auf der Seite der Teilinvaliden.

Das Referendum 1997 ging von dieser Region aus, vom Komitee von La Chaux-de-Fonds. Die sozialen Bewegungen können auch unter widrigen Bedingungen etwas erreichen, falls sie kämpfen. Wir, die Gewerkschaften, die Linke, sind gezwungen, in diesem Jahr zwei Referendumskämpfe zu führen, zwei Referenden, die wir gewinnen können, und die wir gewinnen müssen, im Dezember gegen den Abbau bei der Arbeitslosenversicherung, und schon im September das Referendum gegen die Strommarktliberalisierung. Es sind zwei wichtige Referenden für die Zukunft der Schweiz, der politischen und sozialen Schweiz.

Wir haben die Chance, diese Auseinandersetzungen zu gewinnen, wenn wir kämpfen, der politischen Uebermacht auf der Gegenseite zum Trotz. (Strommarktliberalisierung: Kampf um den service public) Die Strommarktliberalisierung setzt die Qualität des Service Public aufs Spiel. Heute haben wir in der Schweiz eine hohe Versorgungssicherheit. Ausfälle der Stromversorgung wie in Kalifornien und Schweden nach der Liberalisierung können wir uns nicht vorstellen. Der Wasserkraftanteil in der Schweiz ist hoch. Niemand wird von den Strompreisen erdrückt, im Gegensatz zu den Krankenkassenprämien.

All das verdanken wir den öffentlichen Werken, dem demokratischen Einfluss, der starken Stellung der öffentlichen Hand auf der Ebene der Gemeinden und der Kantone. Das ist die Errungenschaft von Generationen, welche die Stromversorgung nicht dem Markt, nicht den privaten Konzernen überlassen wollten, mit guten Gründen. Warum soll jetzt diese öffentliche Stromversorgung zerschlagen werden, obwohl sie gut funktioniert? Weil mit der Liberalisierung hohe Gewinne zu erzielen sind, Gewinne für die Konzerne, die nicht vom Himmel fallen, sondern von den gewöhnlichen Konsumentinnen und Konsumenten bezahlt werden müssten. Enron, die grösste Firmenpleite in den USA, Spekulation, Manipulation, Lug und Trug, ist das Produkt der amerikanischen Elektrizitätsmarktliberalisierung. Jetzt ist das Enron-Stromhandelsgeschäft von Marcel Ospels UBS übernommen worden, in freudiger Erwartung der Gewinne, die mit den liberalisierten Energiemärkten zu erzielen sind. Und in Kalifornien, z.B. in San Francisco, gibt es wieder erfolgreiche Volksinitiativen für eine öffentliche Stromversorgung, also exakt für das, was wir schon heute haben.

Für die Economiesuisse, den mächtigen Dachverband der Wirtschaft (Früher Vorort), ist das Elektrizitätsmarktgesetz (EMG) der entscheidende Testfall für die Politik der Liberalisierung und Privatisierung des Service Public. Aber trotz der Unterstützung durch die bürgerlichen Parteien, trotz der Unterstützung durch die Atomlobby und die Kantonsregierungen, trotz dieser gewaltigen Uebermacht wissen die Strategen der Economiesuisse nur zu gut, dass sie den Abstimmungskampf ohne linke Feigenblätter nicht gewinnen können - denn zu offensichtlich sind die Nachteile für Konsumentinnen und Konsumenten und für die Versorgungssicherheit.

Die Weissbuchapologeten der Economiesuisse, die Ospels und die Mühlemanns, wagen längst nicht mehr zu behaupten, dass die Strommarktliberalisierung der Bevölkerung eine bessere Versorgung und sinkende Preise bringt, weil es erstens nicht stimmt und weil ihnen das zweitens niemand glauben würde. Die Linke kann das Referendum gegen das EMG gewinnen. Aber damit wir gewinnen, braucht es einen grossen Einsatz und vor allem eine klare Sprache, nach innen und gegen aussen, und die Entlarvung der Interessen, die hinter der Strommarktliberalisierung stehen. Wenn wir das Referendum gewinnen, dann ist das ein starkes Signal für einen leistungsfähigen Service Public im Interesse der Bevölkerung, weit über die Stromversorgung hinaus.

Denken wir beispielsweise an die unverantwortlichen Pläne bei der Post, die dieses Bundesunternehmen in wenigen Jahren kaputtzumachen drohen, und damit die postalische Versorgung der Regionen abseits den grossen wirtschaftlich dominierenden Zentren. BR Couchepin meint, ökonomisch gesehen würden 800 Poststellen für die Schweiz genügen. Das sagt er unverfroren in einem Zeitpunkt, wo noch weit über 3000 Postbüros existieren. Die Lebensqualität der Schweiz beruht entscheidend auf funktionierenden öffentlichen Dienstleistungen, unter Einschluss des öffentlichen Verkehrs und der Bildung. Verteidigen und erweitern wir diese Errungenschaften, im Interesse der grossen Mehrheit der Bevölkerung. Das Referendum vom September ist dafür ein wichtiger Testfall.

Es gibt Dinge, die zu wichtig sind, um sie dem Markt, den Konzernen, den Profiteuren und Spekulanten zu überlassen.

Der Erfolg der GBI ist ein starkes Signal auch in Richtung der Frühpensionierung in der AHV, die seit Jahren im Parlament blockiert wird. Solange die Bürgerlichen meinen, dem Volk ein Abbauprogramm verordnen zu müssen, werden wir die Revision bekämpfen. Es wird Zeit, statt Steuergeschenken für die Reichen die Frühpensionierung für alle einzuführen und die Renten wieder zu verbessern. Die AHV ist für die Leute mit unteren und mittleren Einkommen die Basis der Altersvorsorge. Deshalb braucht es die soziale Frühpensionierung in der AHV.

Der 1. Mai steht dafür, dass es Perspektiven der sozialen Entwicklung gibt, unabhängig von der Herkunft und unabhängig von den nationalen Grenzen. Dass gegen die gefährlichen Tendenzen von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung eine lebendige Bewegung existiert, die sich an den Interessen der Arbeitenden orientiert.

Oder wie in Porto Alegre formuliert worden ist: Eine andere Welt ist möglich.

Dieses Schweizerland, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land brauchen Gewerkschaften, mehr Gewerkschaften, überall Gewerkschaften. Gewerkschaften auch in den "neuen" Branchen.

Der Gedanke der gewerkschaftlichen Organisation muss von und und durch uns noch mehr verbreitet werden. Es sei nicht modern, organisiert zu sein. So verkündet es der neoliberale Zeitgeist und seine Hohepriester. Jeder sei seines eigenen Glückes Schmied. Einigen wenigen mag das gelingen, wenn sie rücksichtslos genug vorgehen. Der Maifeierbewegung geht die Arbeit nicht aus. Die hohen Ziele "internationale Solidarität" und Schaffung sozialer Gerechtigkeit hier im Lande und weltweit erfordert unser aller Einsatz. Dieser 1.Mai 2002 ist uns Anlass, unser Versprechen, den Zielen der Maifeierbewegung zu dienen mit freudigem Einsatz zu erneuern und zu bekräftigen.

Und noch einmal: Eine andere Welt ist möglich.

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