Solothurner Zeitung | Ausgabe vom 31.07.2008
«Langsam
begriffen wir etwas»
«1968»:
SP-Ständerat Ernst Leuenberger organisierte in Bern die erste Vietnam-Demonstration
Mit 20
kommt Nachwuchs-Sozialdemokrat Ernst Leuenberger an die Uni Bern. Mit
Gleichgesinnten gründet er das forum politicum, stösst politische
Diskussionen an und trägt den Geist des Aufbruchs in die SP. Der
aufwühlende Anfang einer Politiker-Karriere.
ANNE-SOPHIE
SCHOLL
Der grösste
Handel, den sie in ihrer Studentenzeit in Bern aufgeworfen hatten, sei
der Schweizerhofkrawall im April 1969 gewesen, erinnert sich der heutige
Solothurner SP-Ständerat Ernst Leuenberger. Im Gedenken an den
zweiten Jahrestag des Militärputsches, der in Griechenland das
Obristenregime an die Macht gebracht hatte, wollte die griechische Botschaft
im Schweizerhof zu einem Empfang laden. Schweizweit organisierten sich
die politisch engagierten linken Studierenden, um den Empfang zu verhindern.
Ernst Leuenberger trug sein Engagement beim Protest einen Eintrag in
seine Fiche ein.
Von diesem
Tag an wurde ein gerichtspolizeiliches Ermittlungsverfahren gegen ihn
eröffnet, mit Verdacht auf umstürzlerische Agitation: Ein
kleiner Kreis auf der Karteikarte verweist auf die Zuordnung zur Extremistenkartei,
eingestuft war er in die Verdächtigkeitskategorie 2, die zweit-höchste
von fünf Kategorien. Allein diese beiden Zuordnungen hätten
für eine Einweisung in ein Lager gereicht, empört sich Leuenberger
heute noch: «eine Sauerei». Von dem Eintrag erfahren hat
er erst 20 Jahre später, 1989, als der Fichenskandal aufflog. Damals
war er bereits Nationalrat. Mehrmals habe er in der Folge ergebnislos
ein Gesuch eingereicht, das laufende Verfahren einzustellen. Erst 1994
erhält er diesbezüglich ein Schreiben von Carla del Ponte.
Seither umarme er die damalige Bundesanwältin immer, wenn er sie
sehe, sagt er mit einem Lächeln.
Mit
Burschen zusammengeprallt
Er habe
immer ein spezielles Verhältnis zum Staat gehabt, sagt Leuenberger.
Einerseits sei der Staat für ihn als Sozialdemokrat zentral und
wichtig, andererseits sei er aber auch eine brutale Macht und Gewalt
ausübende Instanz. Eine Restmenge Staatskritik ist ihm bis heute
geblieben; Repression sei nie produktiv, betont er.
Eröffnet
worden war seine Fiche bereits drei Jahre vor dem Schweizerhofkrawall:
im November 1966. Damals hatte er mit anderen Studierenden an der Universität
die Diskussionsplattform forum politicum gegründet und die erste
Vietnam-Demonstration in Bern organisiert eine Manifestation
von vielleicht 100 Personen. Ungewollt sei die Kundgebung vom 26. November
mit den Feierlichkeiten des Dies academicus zusammengefallen. Die linken
Studierenden sahen sich schliesslich den farbentragenden Burschen der
Berner Studentenverbindungen gegenüber. Am nachfolgenden Tag schrieben
die Zeitungen über Ausschreitungen, der Staatsschutz notiert Leuenberger
als verantwortlichen Leiter der Kundgebung.
Aufbruch
zu neuem Denken
Die Diskussion
um den Vietnamkrieg sei von zentraler Bedeutung für seine Politisierung
gewesen, sagt Leuenberger, und er holt das kleine Büchlein des
damals an der Universität Bern dozierenden Soziologen Urs Jaeggi
hervor. Dessen Schrift «Der Vietnamkrieg» und die Presse
deckte die Manipulation der Berichterstattung in den Medien auf und
entlarvte die USA als grausame Kriegsführer. Für die Studierenden
war die Publikation eine Entdeckung, die USA waren bis anhin als zentrale
Grösse gehandelt worden, als Hort der Freiheit, der Westeuropa
aus dem Zweiten Weltkrieg gerettet hatte.
Jean Ziegler,
dem im Wintersemester 1967 ein Lehrauftrag zu «Entwicklungssoziologie»
erteilt wurde, war ein weiterer Mentor der Jungen in dem ansonsten «verstaubten
Altmännerhaufen» an der Uni Bern. Die Studierenden sogen
seine Kritik auf: die internationale Ausbeutung, die opportunistische
Rolle der Schweiz, der spätkolonialistische Imperialismus der USA.
Sie verschlangen die Publikationen, die das Verhältnis der Ersten
zur Dritten Welt kritisch beleuchteten. Jede Woche sei jemand mit einem
Büchlein erschienen, habe darüber referiert: Die Kritische
Theorie der Frankfurter Schule mit Jürgen Habermas oder Theodor
Adorno und auch Frantz Fanon, der Vordenker des Postkolonialismus, fallen
Leuenberger im Gespräch spontan ein. Nächtelang haben sie
gelesen, eine eigentliche Parallel-Universität organisiert, neben
dem formalen Studium. Einige von ihnen gingen nach Berlin, andere beobachteten
die Ereignisse in Paris, berichteten anschliessend darüber. Nie
sei sein Informationsstand über internationale Fragen und über
laufende polit-ökonomische Diskussionen so hoch gewesen wie zu
der Zeit, bilanziert Leuenberger heute. «Langsam» hätten
sie «etwas begriffen von dieser Welt.»
Ein
neues Zeitalter brach an
Die Zeit
im Berner forum politicum war ein Aufbruch zu einem neuen Denken. Damals
seien sie der Überzeugung gewesen, ein neues Zeitalter breche an:
«ein berauschendes Gefühl».
«Falls
ich sie jemals wieder brauche»
Zum Glück
hätten sie keine Macht gehabt, den dazugehörigen neuen Menschen
zu erzwingen, selbst wenn sich auch in der Schweiz Einzelne in die Nähe
«der Sprengstoffillegalität» begeben hätten. Die
politisierten Jugendlichen bildeten eine wilde Szene, ihre illegalen
Aktivitäten seien schlimm gewesen, zitiert Leuenberger das Denken
der damaligen Obrigkeit relativiert aber sogleich: Im Vorfeld
des Schweizerhofkrawalls haben sie Packpapierbogen besorgt, ihre Parolen
mit Ölfarbe daraufgeschrieben, mit Klebestreifen sind sie schliesslich
in die Stadt gezogen. Heute würde man Spraydosen nehmen. Und als
sie vor dem DRS-Radiostudio Bern gegen den südvietnamesischen Diktator
skandierten und plötzlich der Direktor herausstürmte, seine
Tochter schlug und an den Haaren aus dem protestierenden Haufen zog,
seien sie nur verdattert dagesessen. Heute würden sie aufstehen
und den Herrn Direktor verklopfen.
An einem
Treffen 1967 mit tschechischen Jungkommunisten fand der junge Student
in Prag einen Laden mit wunderschönem roten Tuch, «dreckbillig».
Den Stoff gab er der Pfarrerstochter Teta von Planta, «Maman peut
faire ça», hatte sie zugesichert. Nicht Vorhänge,
sondern Fahnen entstanden daraus. Zusammengerollt, aber bereit für
den Kampf steht das rote Banner mit der Aufschrift «USA
weg aus Vietnam» noch heute in der Ecke des kleinen Büros
von Ernst Leuenberger im Vorzimmer seines Zuhauses in Solothurn: zwischen
Aktenmappen und Büchern, neben dem Wahlplakat der Berner «Härdlütli»
von 1971, einem von seiner Schwester gemalten Bild der grossen Vietnam-Demo
im Juni 68 und der gerahmten Internationalen. Verzögert zieht sich
ein Lächeln über das Gesicht des heutigen Solothurner Ständerates
und einstigen National-ratspräsidenten: «Die Fahne bleibt
hier. Falls ich sie je wieder einmal brauchen sollte.»
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