Ständerat: Herbstsession, 25. September 2002

4. IV Revision

Ganze Debatte zu diesem Geschäft


Leuenberger Ernst (S, SO), Als der Wirt dann nach gehabten Freuden die Rechnung präsentierte, schlugen sich einige Gäste seitwärts in die Büsche. So etwa kommt mir die bisherige Debatte vor, und ich finde, die Debatte über die Finanzierung des Sozialstaates verdient eine etwas grössere Ernsthaftigkeit, als sie bisher gepflogen wurde. Wir müssen vermutlich auch einige Konflikte austragen.

Es ist hier unwidersprochen festgehalten worden: Je westlicher in der Schweiz man lebe, desto invalider sei man, statistisch gesehen. Je städtischer man lebe und wohne, desto invalider sei man. Umgekehrt: Je ländlicher und je östlicher man wohne und lebe, desto weniger invalid sei man. Das ist eine Feststellung, die getroffen worden ist. Sie wird sicher Anhaltspunkte haben, die stimmen. Mir fällt in diesem Zusammenhang einfach auf, dass da oft Wanderungen stattfinden. Wenn man im Mittelalter gesagt hat, Stadtluft mache frei, so könnte es durchaus sein, dass behinderte Personen die Stadt suchen, weil dort der Doktor Eisenbart etwas weniger eisig ist als vielleicht in der Ostschweiz auf dem idyllischen Land. Jedenfalls können wir die Debatte so nicht führen und sagen, das sei eine Geschichte der Westschweizer Städte.

Eine zweite Frage beschäftigt mich seit dreissig Jahren ungemein, notabene als Solothurner: Nach der Ölkrise, als wir unsere Beschäftigungsprobleme in der Uhrenindustrie hatten, damals noch ohne obligatorische Arbeitslosenversicherung, ist mir, dem damals jugendlich-stürmischen Gewerkschaftssekretär aufgefallen, dass grosse Firmen, die inzwischen nicht mehr so grosse Namen haben, auf Teufel komm raus invalidisiert haben. Die Unternehmen haben es erfunden, die Ärzte haben die Zeugnisse ausgestellt, die Sozialversicherungsbürokraten haben unterschrieben, und die Gewerkschaftsfunktionäre haben Beifall geklatscht. Die Arbeitnehmer waren glücklich, weil sie mangels einer Arbeitslosenversicherung weiterhin ein gesichertes Einkommen hatten. Damals in den Siebzigerjahren wurde in Serie invalidisiert.
Man hat damals einen richtigen Schluss aus dieser unliebsamen Geschichte gezogen. Man hat ja dann im Jahre 1977 das Obligatorium der Arbeitslosenversicherung eingeführt.

Wir kommen in dieser sehr ernsthaften Diskussion nicht umhin, die Grenzen zwischen Arbeitslosen- und Invalidenversicherung zu ziehen. Ich habe etwas gelitten, als der Herr Kommissionspräsident ausgeführt hat, man müsse diesen Verrentungsprozess stoppen. Es ist ihm nicht gelungen für meine Ohren hörbar zu sagen, wie man diesen Prozess stoppen könnte. Jedenfalls hat das einen Zusammenhang mit der Arbeitslosenversicherung, es sei denn, es würde jemand hier drin - offen aussprechend oder sous-entendu - die Meinung vertreten, wir sollten die Leute in grösserer Zahl auf die Fürsorge schicken. Das habe ich bisher nicht gehört. Aber ich nehme auch an, dass wir uns einig sind, dass das eher ein Modell aus dem 18., eventuell aus dem 19. Jahrhundert ist, aber ganz sicher nicht eines aus dem 21. Jahrhundert.

Jedenfalls ist die Lösung hier nicht präsentiert worden. Wenn wir uns jetzt aus finanziellen Gründen auf die Invalidenversicherung stürzen und dabei in der ganzen Diskussion komplett vergessen, was wir beispielsweise vor kurzem auch bei der Arbeitslosenversicherung beschlossen haben, dann wäre das etwas kurz gegriffen. Zur Finanzierung möchte ich in dieser Debatte spontan einfach sagen, dass ich am liebsten Herrn Schmid Carlo voll zustimmen und sagen würde: Auch ich, der ich in meiner Bewegung ein etwas Traditioneller bin, habe gelernt, dass direkte Steuern wegen der Progression eigentlich gerechter sind als indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer. Das hat mir der grosse alt Bundesrat Max Weber noch an der Universität Bern beigebracht. Ich habe es geglaubt, obschon moderne Ökonomen diese These in Zweifel ziehen. Herr Schmid, das Problem ist nur: Auch wenn ich Ihren Ausführungen, die Sie zu diesem Punkt gemacht haben, durchaus zustimmen möchte, dann fällt mir doch auf, dass wir in dieser Runde vor nicht allzu langer Zeit just um die Frage gestritten haben, wie gross der Anteil der direkten Steuern am Steueraufkommen des Bundes sein soll. Eine überwältigende Mehrheit dieses Rates hat doch die Meinung ausgedrückt, der Anteil der direkten Steuern am Gesamtsteueraufkommen des Bundes solle zurückgehen. Das ist jedenfalls in der Steuerdebatte hier zum Ausdruck gebracht worden. Das habe ich dazu noch anmerken wollen.

Ich muss Ihnen ganz offen gestehen: Ich staune ein bisschen darüber, dass nun starke Kräfte dieses Rates ganz klar sagen, dass sie diesen Finanzierungsbeschluss jetzt nicht haben möchten. Ich möchte einfach wissen, wann sie diesen Beschluss fassen wollen.

Ich schliesse mit dem Hinweis, mit dem ich begonnen habe: Wir haben diesen Sozialstaat gemeinsam durch Beschlüsse geschaffen, wir sind stolz darauf und wir können uns nicht vorzeitig abmelden, wenn die Rechnung dafür präsentiert wird.

 

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