
Ständerat:
Herbstsession 2005, 20.09.05
Motion Schweiger Rolf. Konkretisierung finanzpolitisch wichtiger Strukturreformen.
Sozialbereich
Die in
ihrer Berichterstattung ansonsten so exakte NZZ hat dieses Geschäft
offenbar nicht als wichtig genug erachtet. Ernst Leuenbergers Antrag,
die vom Bundesrat unterstützte Motion Schweiger abzulehnen, wurde
mit 18 zu 12 Stimmen unterstützt.
Leuenberger
Ernst (S, SO): Herr Schwaller hat materiell die Begründung für
die Ablehnung der Motion geliefert. Ich will von meiner Seite noch einmal
unterstreichen, dass ich seit Jahren - auch hier in diesem Saal - was
die Invalidenversicherung betrifft, den Satz "Eingliederung vor
Rente" höre. Damit sind wir alle einverstanden und sind froh
darüber, dass wir einverstanden sind.
Nur wenn ich dann hingehe und einer gesundheitlich angeschlagenen Person
helfen will, einen Arbeitsplatz zu suchen, dann wird es schwierig. Denn
der Unternehmer - ich mache mich nicht lustig über ihn, ich nehme
das sehr ernst - sagt mir dann: "Wissen Sie, ich stehe unter einem
so enormen Konkurrenzdruck, dass ich im Prinzip nur voll leistungsfähige
Arbeitnehmende beschäftigen kann." Das habe ich ernst zu nehmen,
denn das ist eine gültige Argumentation, die mich sehr beeindruckt.
Also muss ich feststellen, dass "Eingliederung vor Rente"
zwar einstimmig unterstützt wird, sich aber in der Umsetzung extrem
schwierig gestaltet, aus Gründen ökonomischer Sachzwänge.
Das heisst für mich, dass man keine Illusionen verbreiten soll.
Die Motion fordert eine Stabilisierung der bereits sehr hohen IV-Rentnerbestände
durch die Eingrenzung des Invaliditätsbegriffes, zum Beispiel im
psychischen Bereich. Ich gestehe Ihnen, dass ich weiss: Es ist einfacher,
invalid zu sein mit einem Handicap, das man von weitem sieht - das ist
viel einfacher. Psychische Erkrankungen dagegen sieht man nicht, und
ich meine, die Diskussion um die psychischen Erkrankungen und Invalidisierungen
hat doch in diesem Land eine üble Wende genommen, in jener Sekunde,
als man praktisch kollektiv psychisch kranke Menschen zu "Scheininvaliden"
degradiert hat.
Ich möchte dieser Degradierung nicht weiter Vorschub leisten, indem
ich einer Motion zustimme, die besagt, man könne die Zahl der IV-Rentnerinnen
und -Rentner reduzieren, indem man einfach bei den psychischen Leiden
massiv einschränkt. Dieses Rezept ist einerseits so einfach, dass
es bestechend wirkt, aber andererseits ist es zu einfach, um der Wirklichkeit
standzuhalten.
Ein Zweites wird in der Motion angesprochen, die Gleichsetzung des Rentenalters
von Mann und Frau. Es ist möglich, dass diese irgendwann kommt,
aber das dicke Ende kommt ja erst nachher! Die Motion verlangt eine
"stufenweise Anpassung des Regelrentenalters in angemessener Abhängigkeit
der erhöhten durchschnittlichen Lebenserwartung, kombiniert mit
...."
Ich hoffe, wir haben das alle gelesen und sind uns bewusst, was das
bedeutet. Ich nehme an, Herr Couchepin hat seine Fachleute, die spielend
sagen können - das haben uns Bundesräte auch schon vorgerechnet
-: Wenn man das Rentenalter 65 von 1948 in Relation zur Lebenserwartung
setzt, dann könnte man heute mathematisch auf ein Rentenalter kommen
von - ich weiss die Zahl nicht mehr, ich habe sie vergessen, aber möglicherweise
weiss sie jemand in diesem Saal. Ich möchte vermeiden, dass plötzlich
erklärt wird, in einer ständerätlichen Motion sei die
Erhöhung des Rentenalters auf 75 Jahre verlangt worden. Das ist
eine grobe, unzulässige Unterstellung, aber wir wollen solche Dinge
vermeiden.
Der sozialpolitische Diskurs, auch Reformdiskurs genannt, ist durch
solche verbindliche Aufträge, die praktisch wie ein Keil auch in
dieses Parlament getrieben werden, nicht in Gang zu halten.
Ich bitte Sie dringend, davon abzusehen, diese Motion zu überweisen.
Sie trägt nicht zu einer zukunftsträchtigen Entwicklung bei.
Das
ganze Geschäft
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