Wintersession 2004. 04. Sitzung / 02.12.04-08h00

Personenfreizügigkeit.
Flankierende Massnahmen

Ernst Leuenberger erwartet eine Volksabstimmung. Sie im Sinne der Personenfreizügigkeit zu gewinnen, erfordert dringend die Verbesserung der Sicherungen gegen Lohn- und Sozialdumping und zwar nach den Grundsätzen der Branchenüblichkeit.

Leuenberger Ernst (S, SO): Ich will es vorwegnehmen, ich trete ein, selbstverständlich mit dem Vorbehalt: Abgerechnet wird am Schluss, wie wir das ja zum Brauch haben. Vielleicht erlaubt mir Herr Schmid, dass ich auf seinen Vorwurf an die Linke hin, sie hätte den Internationalismus über Bord geworfen, etwas spöttisch festhalte: Nachdem die Rechte die Linken hundert Jahre lang wegen ihres Internationalismus als vaterlandslose Gesellen geprügelt hat, könnte es ja sein, dass dieser Internationalismus der Linken inzwischen abhanden gekommen ist.
Aber nun seriös: Ich gehe davon aus, dass die Vorlage, die hier zur Debatte steht, letztendlich eine Volksabstimmung zu bestehen hat. Referenden sind von verschiedenen Seiten angekündigt. Ich nehme an, irgendwer wird am Schluss das Referendum ergreifen. Darum ist unsere ganze Debatte hier und heute halt trotz allem ein Vorgefecht auf die kommende Volksabstimmung, und ich möchte vor meinen Leuten dann dafür geradestehen können, dass wir in diesem Zusammenhang wirklich - wie das Herr David schon bei einer anderen Vorlage gesagt hat - alle Ecken ausgeleuchtet haben.
Ich versuche, Ihnen schnell drei Bilder zu zeigen, die sich mir bei meinen Wanderpredigten im ganzen Land präsentieren:
Das erste hat mit der Hochpreisinsel Schweiz zu tun. Dieser Hochpreisinsel Schweiz, sagen alle, sei zu Leibe zu rücken. Es gibt Leute, die sagen: Ja, das kann man ganz einfach machen; man öffnet den schweizerischen Arbeitsmarkt beliebig, dann sind Arbeitskräfte im Überfluss vorhanden, und das wird dann seine Wirkung am Arbeitsmarkt haben: auf die Arbeitsentgelte, auf die Löhne - die werden sinken, die Arbeitnehmereinkommen werden sinken -; und damit ist ein Beitrag zur Bekämpfung der Hochpreisinsel Schweiz geleistet. Ich halte das für ein gefährliches Bild, für ein Bild, das ich mir selbstverständlich nicht wünsche. Aber wir haben den Beweis hier und heute gesetzgeberisch anzutreten, dass wir der Hochpreisinsel Schweiz nicht auf diese Weise zu Leibe rücken wollen.
Das zweite Bild hat mit jener Phase nach der Ablehnung des EWR-Beitritts zu tun, als man den bilateralen Weg zu begehen begann. Am Anfang standen immer feierliche Erklärungen - und dies wurde durchgezogen -, es sei, auf jeden Fall im Zusammenhang, der mich jetzt speziell interessiert, allgemeines Lohn- und Sozialdumping zu verhindern, auch unter der Bedingung von Personenfreizügigkeit.
Es ist immer eingeräumt worden, dass es eine schwierige Geschichte ist, ökonomische Grundgesetze von Angebot und Nachfrage bei ebendiesem geöffneten Arbeitsmarkt dann mit Kontrollen tatsächlich in den Griff zu bekommen. Wer das bestreitet, würde den Leuten Sand in die Augen streuen.
Es ist wahr, und es wurde gesagt: Die reale Einführung dieser Personenfreizügigkeitsschritte ist jung, und die Erfahrungen damit sind ebenfalls jung. Es ist auch eingestanden worden, dass zum Teil das Erschrecken über die Auswirkungen in Einzelfällen - ich will diese Vorkommnisse vorläufig noch als Einzelfälle gelten lassen - gross ist. Selbstverständlich sind nicht nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erschrocken; Frau Forster hat ausgeführt, dass auch Gewerbekreise erschrocken sind, weil Gewerbekreise, wie z. B. die Baubranche mit ihrem allgemein verbindlich erklärten Landesmantelvertrag, ja im Allgemeinen auch davon leben, dass eben nicht zu beliebigen Bedingungen offeriert und gearbeitet werden kann; dort hat man eben geordnete Verhältnisse. Ich bin auch erschrocken, als die kantonalen Volkswirtschaftsdirektoren etwa vor drei Wochen, als sich die medialen Reklamationen häuften, etwas lapidar mitteilten, diese Kontrollen könnten sie in den Kantonen gar nicht machen, da sollten die Sozialpartner schauen. Das ist ein gefährlicher Satz, und ich habe das allen Volkswirtschaftsdirektoren deutlich gemacht, die ich inzwischen getroffen habe. Ich glaube zu wissen, dass auch der Wirtschaftsminister, Bundespräsident Deiss, entsprechend mit den Volkswirtschaftsdirektoren gesprochen hat.
Bund und Kantone haben da vermutlich nicht alle Hausaufgaben gemacht. Es bestehen noch erhebliche Probleme. Wie ich schon ausgeführt habe, rechne ich mit einer Volksabstimmung, auch wenn ich selber im Moment nicht die Absicht habe, in ein Referendumskomitee zu sitzen; deshalb muss ich Ihnen sagen: Wir müssen subito danach trachten, dass diesen Einzelfällen der Boden entzogen wird. Und das ist eine gewaltige Aufgabe für die Sozialpartner, die kantonalen und die eidgenössischen Behörden. Ich mahne dringend, das sehr, sehr ernst zu nehmen.
Nachdem ich nun mehrmals von einem Referendum gesprochen habe, lege ich Wert auf die Feststellung, dass ich hier keine Referendumsdrohungen ausstosse; das ist eigentlich nicht meine Art. Aber ich glaube gelesen zu haben, dass Kreise, denen ich das Attribut Fremdenfeindlichkeit gerne zuordne, bereits von einem Referendum in diesem Zusammenhang gesprochen haben.
Ich nehme an, dass die das auch tatsächlich machen werden, und es wäre fatal, wenn wir ihnen leichtes Spiel machten, indem sich eben die Fälle häuften, wo man nachweisen kann, dass die Ausländer, die eben aus dem Ausland stammen - das haben Ausländer so an sich -, in diesem Land dann als Dumper auftreten. Als langjähriger Gewerkschaftsfunktionär sage ich Ihnen: Gegen diese propagandistische Dummheit kämpfen selbst Götter vergebens, geschweige denn Gewerkschaftssekretäre, Politikerinnen oder Bundesräte. Da haben wir kein Brot. Wenn die Leute einmal glauben, da würden unterschwellig, torpedobootähnlich, Leute eingeschleust, die bereit seien, zu allen Bedingungen zu arbeiten, dann haben wir die Geschichte verloren, bevor wir richtig damit begonnen haben. Und den grossen Teilnehmern an den aktuellen Islam-Debatten kann ich nur sagen: Eine gewisse Zurückhaltung - christliche Zurückhaltung auch - könnte sich durchaus empfehlen.
Ein drittes Bild muss ich Ihnen zeichnen, und Sie werden mir dann vermutlich sagen, das sei ein bisschen weit hergeholt und habe unmittelbar mit den Vorlagen nichts zu tun. Der Bund ist auch sonst noch gefordert, abgesehen von diesen Kontrollen. Im weiteren EU-Zusammenhang sind nämlich in den mittleren Neunzigerjahren grosse Reformen bei den damaligen Bundesbetrieben an die Hand genommen worden - EU-Veranlassung, EU-Richtlinien, die können wir alle auswendig -, die da haben umgesetzt werden müssen, und ich lege Wert darauf zu erwähnen, dass wir alle damals wesentliche Massnahmen mitgetragen haben. Wir haben entschieden, dass die Post, die Bahn und die ehemalige Telecom PTT in den Wettbewerb zu schicken seien. Wir haben das aus EU-Gründen gemacht; ich habe es schon gesagt. Die EU-Gegner waren enthusiastisch für diese Liberalisierung, die EU-Befürworter eher ein bisschen zögerlich, aber allesamt haben wir diese Geschichte gemeinsam veranstaltet.
Und es stellten sich nun auch hier bei diesem Wettbewerb Dumpingfragen, und das will ich hier und heute vom Bundesrat wissen: Der Bundesrat hat am Klaustag des Jahres 1999 etwas getan, wofür ich ihm den goldenen Gartenzwerg überreichen möchte, er hat nämlich in einer Motionsbeantwortung dazu Stellung genommen, wie Lohn- und Sozialdumping bei dieser ganzen Reform zu vermeiden seien. Ich zitiere, es geht um die Motion 99.3486. Am 6. Dezember 1999 antwortet der Bundesrat: "Die Verhinderung eines allgemeinen Lohn- und Sozialdumpings ist ein zentrales Anliegen bei der Umstrukturierung der Bundesbetriebe. Nur so können wesentliche Ziele unserer Wirtschaftspolitik .... erreicht werden. Bei der Liberalisierung der Märkte im Bahn- und Fernmeldebereich war sich der Gesetzgeber der Gefahr eines Sozialdumpings bewusst." Aus diesem Grund hat das Parlament Vorschriften eingeführt, wonach nicht nur arbeitsrechtliche Vorschriften einzuhalten seien, sondern auch die Gewährleistung der branchenüblichen Arbeitsbedingungen.
Der Bundesrat in seiner Weisheit hat sogar noch gesagt, was branchenübliche Arbeitsbedingungen in diesem Zusammenhang sind: "Deshalb werden die Gesamtarbeitsverträge von Post, Swisscom und SBB bei der Beurteilung der branchenüblichen Arbeitsbedingungen einen wesentlichen Massstab darstellen."
Hohes Lob an den Bundesrat für seine Erklärung von 6. Dezember 1999! Meine Frage hier und heute lautet - die Antwort wird entscheidend sein -: Gilt diese bundesrätliche Antwort noch, oder gilt sie nicht mehr?
Ich muss nämlich inzwischen feststellen, wenn es um die Interpretation dieser Branchenüblichkeit geht, dass die respektiven Bundesämter in diesem Zusammenhang ihre ganze intellektuelle Energie darauf verwenden, nachzuweisen, dass diese Branchenüblichkeit gar nicht definierbar ist. Betroffen sind rund 100 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, fast allesamt stimmberechtigte Schweizer Bürgerinnen und Bürger, erfahrungsgemäss mit einer überdurchschnittlichen Stimmbeteiligung.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Wenn nicht bis zum Zeitpunkt der von mir erwarteten bzw. befürchteten Volksabstimmung über diese Geschichte hier auch in diesem Sektor Klarheit geschaffen wird, werden diese Zustände letztendlich einen gewaltigen Einfluss auf das Resultat dieser Volksabstimmung haben.
Es tut mir leid, dass ich als vermuteter Internationalist hier nicht als Europhoriker auftrete; von dieser Sorte hat es in meiner Bewegung eh genug. (Heiterkeit) Ich trete als alternder Realist auf und möchte eigentlich, dass es uns in dieser Beratung gelänge, die vorliegende Vorlage so zu beraten, dass die von verschiedenen Votantinnen und Votanten beschriebene Verständigungslösung auch als Verständigungslösung durch dieses Parlament geht.
Wie gesagt, auch Realisten müssen irgendwann abrechnen, und das kommt erst am Schluss.

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