«Die Löhne dürfen nicht vor den Preisen purzeln»

Etappensieg für Eisenbahnerchef Ernst Leuenberger im Lohnstreit der Lokführer. Bis auf weiteres wird die BLS Cargo keine tiefer bezahlten deutschen Lokführer durch die Schweiz fahren lassen. Doch sind die höheren Schweizer Löhne auf Dauer haltbar?

Work. Die Zeitung zur Arbeit. Interview: Marie-Josée Kuhn

work: Herr Leuenberger, was haben Sie gegen deutsche Lokführer?
Ernst Leuenberger: Überhaupt nichts. Wir haben verschiedene deutsche Lokführer im Eisenbahnerverband, die hier arbeiten und bei schweizerischen Unternehmungen zu schweizerischen Bedingungen angestellt sind. Leider gibt es neuerdings auch deutsche Lokführer, die hier arbeiten und die von deutschen Unternehmen zu deutschen Bedingungen angestellt sind und unter der Flagge von Cargo BLS arbeiten. Ich spreche namentlich von der Deutschen Bahn und ihrer Cargo- Tochtergesellschaft Railion: Diese zahlt ihren Lokführern, die in der Schweiz arbeiten, ungefähr dreissig Prozent weniger Lohn als hier üblich. Und jetzt kommt das Problem: Wenn wir vom SEV einfach zusehen, wie tiefer entlöhnte Lokführer durch die Schweiz fahren, wird früher oder später das Lohngefüge ins Rutschen kommen. Nicht nur bei den Lokführern, sondern bei allen Eisenbahnerberufen. Wir hätten dann den klassischen Fall von Lohndumping.

Dreissig Prozent Lohnunterschied: Sind derart grosse Differenzen bei offenen Grenzen überhaupt haltbar?
Ich habe da so meine Bedenken. Die Schweiz ist eine Hochpreisinsel, dementsprechend sind auch die Löhne. Rein ökonomisch betrachtet, werden die höheren Schweizer Löhne auf die Dauer nicht haltbar sein. Was Sie da ansprechen, ist die alte Streifrage: Was purzelt zuerst bei der Angleichung der Schweiz an die EU, die Preise oder die Löhne? Logisch, dass sich die Gewerkschaften dagegen wehren, dass zuerst die Löhne purzeln sollen. Schauen wir die Baubranche an: Dieselbe BLS baut am Lötschbergtunnel im Auftrag der Eidgenossenschaft zu ortsüblichen Bedingungen. Alle Bauarbeiter, auch jene einer österreichischen Baufirma, sind dort dem Landesmantelvertrag im schweizerischen Baugewerbe unterstellt. Das heisst, am Lötschbergtunnel werden Schweizer Löhne bezahlt. Das ist normal und entspricht schweizerischem Recht.

Offenbar ist das Eisenbahngesetz bei der Definition dessen, was branchen- und ortsübliche Arbeitsbedingungen sind, aber gar nicht so klar.
Das Gesetz schreibt klar branchenübliche Bedingungen vor. Das Bundesamt für Verkehr soll jetzt interpretieren, was das genau heisst. Es soll prüfen, ob deutsche Lokführer in der Schweiz Schweizer Löhne erhalten müssen oder nicht.

Was werden Sie tun, wenn das Bundesamt gegen Ihre Interessen entscheidet?
Wir brauchen dringend analog zur Baubranche einen Landesmantel- oder Gesamtarbeitsvertrag für die schweizerischen Normalspurbahnen. Und dieser GAV muss allgemeinverbindlich erklärt werden.

Wird der Entscheid des Bundesamtes über die Bahnbranche hinaus von Bedeutung sein?
Rein rechtlich nicht, politisch dagegen schon. Sowohl im Fernmeldegesetz als auch im Postgesetz werden ebenfalls branchenübliche Arbeitsbedingungen verlangt. Der Entscheid des Bundesamtes für Verkehr dürfte deshalb auch unsere Schwestergewerkschaft Kommunikation interessieren. Ausserdem wird der Entscheid sicher auch im Vorfeld kommender Abstimmungen über die Bilateralen II seine Auswirkungen haben. Falls wir bei den Lokführern jetzt sang- und klanglos untergehen, was ich nicht hoffe, würde sich wohl manch ein Arbeitnehmer den einen oder anderen Gedanken darüber machen, wie sinnvoll eine so unerhörte Grenzöffnung ist.

Höre ich da EU-feindliche Untertöne?
Überhaupt nicht. Ich bin kein Euro-Turbo, aber als Realo meine ich, mit einem EU-Beitritt könnten wir bei all den Gesetzen, die uns sowieso beeinflussen, wenigstens mitreden.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Alleingang der Schweiz und ihrem Dasein als Hochpreisinsel?
Ökonomen sagen, die Schweiz hätte in den 90er Jahren kein so niedriges Wirtschaftswachstum gehabt, wäre sie 1992 dem EWR beigetreten. Die wirtschaftliche Entwicklung von Österreich lässt zumindest die Vermutung zu, dass diese These einiges für sich hat. Wir haben da offenbar einiges verpasst.

Und was sind denn jetzt die Folgen davon?
Schafft man bei sozialen oder ökonomischen Entwicklungen künstliche Stausituationen, dann laufen die Prozesse später mit einem so enormen Tempo ab, dass die Strukturanpassungen absolut brutal werden. Das hat mit der EU wenig, mit der politisch gewollten Strukturerhaltung dagegen sehr viel zu tun. So viel habe ich von einem belgischen Gewerkschaftskollegen anhand des Beispiels belgische Stahlindustrie gelernt. Der belgische Staat unterhielt seine Stahlindustrie mit Protektionsmassnahmen und Subventionen so lange, bis der Damm brach. Auf einen Schlag musste diese Industrie umstrukturiert werden, was enorme Folgen auf den ganzen Landesteil Wallonien hatte.

Laut Bundesamt für Statistik sind die Löhne hier zwar viel höher als in Deutschland, die Kaufkraft dagegen ist viel tiefer. Der deutsche Lokführer kann sich trotz tieferem Lohn also etwa gleich viel leisten wie sein Schweizer Kollege.
Der deutsche Lokführer kann in Deutschland mit seinem niedrigeren Lohn leben. Der Schweizer dagegen kann mit einem deutschen Lohn hier nicht leben. Das ist das eine. Das andere: Wenn die Deutsche Bahn – und das ist offenbar die Zukunft – in der Schweiz rumfahren kann mit ihrem nominell tiefer entlöhnten Personal, verdrängt diese Entwicklung automatisch die Schweizer Lokführer samt den Schweizer Bahnbetrieben.

Dass die Gewerkschaften die Löhne der Arbeitnehmenden verteidigen, ist klar. Warum aber sind sie so zurückhaltend in Sachen Preispolitik?
Das stimmt nicht. Ich erinnere an die Diskussionen um die Revision des Kartellgesetzes. Da waren wir Gewerkschafter im Parlament stark engagiert, zum Beispiel beim Zementpreis. Selbstverständlich gibt es neben der Kartellpolitik auch andere Gründe für die Hochpreisinsel Schweiz: die teure Agrarpolitik, das teure, perfektionistische Bauen, die hohen Bodenpreise. Da gibt es sicher Handlungsbedarf.

 

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