WOZ, 31. Mai 2001
Auch
Genossen sind nur Chefs
Dem
Unternehmen SBB geht es gut, seinen Angestellten weniger. Was das mit
Moritz Leuenberger und dem SP-«Gurtenmanifest» zu tun hat, erklärt Bähnlerchef
und SP-Ständerat .
Interview von Marie-Josée
Kuhn
Der
Bundesrat und die SBB-Unternehmensspitze sind des Lobes voll für das
Geschäftsjahr 2000. Mehr Leistung für weniger Geld, mehr Produktivität
und erst noch ein Ertragsüberschuss von über 146 Millionen Franken,
so lautet die stolze SBB-Bilanz. Freuen Sie sich?
Ernst
Leuenberger: Mich freut es tatsächlich, dass es mit dem schweizerischen
Transportsystem wieder obsi geht. Zwischen 1960 und 1990 ging der Marktanteil
des öffentlichen Verkehrs bekanntlich sowohl im Güter- als auch im Personenbereich
um die Hälfte zurück. Das war ein Drama. Wenn es nun gelungen sein sollte,
diesen Abwärtstrend zu stoppen – oder gar eine Verlagerung zu Gunsten
des Schienenverkehrs herbeizuführen – dann ist das eine gute Leistung.
Ich hoffe, auch Verkehrsminister Leuenberger weiss, wer diese Wachstumsleistung
vollbracht hat. Sie wurde vollbracht von einem Unternehmen, das in den
letzten zehn Jahren 25 Prozent seines Personalbestandes abgebaut hat.
In den letzten zwei Jahren haben die Leute bei den SBB wirklich viel
gekrampft, ihnen gehört das Lob.
Das
Krampfen hat die Leute offenbar nicht glücklich gemacht. Die Unzufriedenheit
bei den SBB-Angestellten ist noch grösser als jene bei der Post. Wo
drückt der Schuh?
Heute
wird bei den SBB mit nur 75 Prozent Personal mehr geleistet als früher
mit 100 Prozent. Für einzelne Berufsgruppen heisst das ständig Überstunden
machen, auf Ferien verzichten und auch an Feier- und Erholungstagen
arbeiten. Diese Belastung, dieser Stress, das kann so nicht weitergehen.
Personalrekrutierungen sind zwar in Gang, sie kommen aber zu spät. Wir
vom SEV (Schweizerischer Eisenbahn- und Verkehrspersonal-Verband, Anm.
Red.) warnten bereits vor zwei Jahren vor einem personellen Engpass.
Doch das hat damals weder die SBB-Leitung noch den Bundesrat sonderlich
beeindruckt. Zu sehr waren sie von ihrem Kosten- und Spardenken beseelt.
Und übrigens: Derselbe Bundesrat, der es bis jetzt nicht gewagt hat,
zu den SBB-Kaderlöhnen ein deutliches Wort zu sprechen, hat vor sechs
Jahren dem Parlament ein Kaderlohn-Opfer beim Bundespersonal mit dem
Argument schmackhaft gemacht, in schwierigen Zeiten müssten die Führungskräfte
mit gutem Beispiel vorangehen und den Gürtel ein bisschen enger schnallen.
Sie
tragen zwar denselben Nachnamen, das Heu haben Sie und UVEK-Vorsteher
Moritz Leuenberger jedoch nicht auf der gleichen Bühne.
Wir haben
unterschiedliche Funktionen, das ist unsere Sprachregelung, die wir
jeweils anwenden. Er ist Verkehrminister der Eidgenossenschaft, und
ich bin Vertreter des Personals des öffentlichen Verkehrs. Bei der Ausübung
unserer Ämter kommen wir uns gelegentlich ordentlich in die Quere. Wir
haben eine Streit- und Konfliktkultur, bei der es nicht ohne Blessuren
abgeht.
Stimmt
es, dass Sie erst aus der Zeitung von den SBB-Kaderlöhnen erfuhren?
Rund eine
Woche vor der Publikation des ersten Artikels riefen mich zwei Journalistinnen
an und fragten, ob ich von diesen Löhnen wisse. Ich wusste nichts, konfrontierte
aber gleichentags SBB-Chef Benedikt Weibel mit den Aussagen der Journalistinnen.
Die SBB-Oberen begannen zu rotieren und versuchten sogar, die Publikation
zu verhindern. Ich muss sagen, ich war wirklich sehr enttäuscht, dass
Weibel das Spiel von VR-Präsident Lalive d’Epinay mitgemacht hat.
Alle
waren informiert, auch Verkehrsminister Moritz Leuenberger, nur Sie
nicht …
Es gibt
eine Aussage von Herrn Verwaltungsratspräsident Lalive, wonach der Chef
UVEK und der Chef Finanzdepartement, Kaspar Villiger, informiert waren.
Letzterer hat dies in einer Fernsehdiskussion bestätigt. Vom Chef UVEK
habe ich bis jetzt keine solche Bestätigung erhalten.
Wenn
es um den Lohn geht, sind offenbar auch SP-Genossen plötzlich keine
Genossen mehr.
Seit Februar,
seit Bekanntwerden der SBB-Kaderlöhne, hat sich das auf einen Schlag
geändert … (lacht). Grundsätzlich gilt: Nur weil einer in der Chefetage
sitzt und ein Sozialdemokrat ist, muss er sich den Gewerkschaften gegenüber
noch lange nicht anders verhalten als ein Bürgerlicher. Es wäre fatal,
wenn aus der Parteizugehörigkeit eine Aufforderung zum Parteifilz abgeleitet
würde.
Auf
die Festlegung der Kaderlöhne von Swisscom, Post und SBB könnte der
Bundesrat theoretisch Einfluss nehmen. Aber wird er das auch tun?
In dieser
Frage ist ein bundesrätlicher Bericht ans Parlament hängig. Herr Bundespräsident
Leuenberger hat bisher nie klar Stellung bezogen. Er hat nur mehrmals
gesagt, der Bundesrat werde wohl Richtlinien erlassen müssen.
Lohndiskussionen
auch beim SEV: Sie fordern den vollen Ausgleich der seit 1997 aufgelaufenen
Teuerung plus 3 Prozent Reallohnerhöhung. Ein heisser Herbst ist also
angesagt?
Wir vom
SEV stellen normalerweise weder Hitze noch Kälte in Aussicht, und wir
pflegen auch nicht, wie dies andere Gewerkschaften gerne tun, auf Vorrat
zu drohen. Wie alle anderen Gewerkschaften unterstehen auch wir der
Friedenspflicht. Das ist in diesem Land so üblich.
Heisst
das, der SEV wird auch dann danken, wenn es keine Lohnerhöhung gibt?
Wenn die
SBB-Leitung im selben Tempo weiter umstrukturiert, wie sie das im Moment
tut, dann wird sich dem SEV die Frage gar nie stellen, ob er zu einem
Streik aufrufen will oder nicht. Dann werden unsere Leute nämlich so
unzufrieden sein, dass sie das Heft selber in die Hand nehmen.
Täuscht
der Eindruck, dass der SEV in klassisch gewerkschaftlicher Manier vor
allem lohnpolitisch aktiv ist, aber eigentlich keine verkehrspolitischen
Konzepte hat?
Der SEV
ist keine Unternehmungsleitung, und er hat auch nicht im Sinn, sich
als solche aufzuspielen. Allerdings können wir für uns in Anspruch nehmen,
bei der Schaffung der verkehrspolitischen Rahmenbedingungen ein gewichtiges
Wort mitgeredet zu haben. Ich denke etwa an die Neat und die Bahn 2000.
Wir fordern auch immer wieder eine viel engere, grenzüberschreitende
Bahnzusammenarbeit. Während hundert Jahren wurden die Bahnen in Europa
nationalstaatlich pervertiert. Bis 1996 stand etwa im schweizerischen
Eisenbahngesetz, die Bundesbahnen dienten der Landesverteidigung und
der Volkswirtschaft. Und zwar in dieser Reihenfolge! Das hat dazu geführt,
dass die Bahnen angehalten waren, an den Grenzen möglichst unüberwindliche
Hindernisse mit Stromsystemen oder mit Kupplungssystemen aufzurichten.
Das muss nun endlich überwunden werden. Wenn es Lastwagen schaffen,
nonstop von Norwegen nach Neapel zu fahren, wenn möglich noch mit demselben
Chauffeur, kann es sich die Bahn schlicht nicht leisten, alle paar hundert
Kilometer das Bahnsystem neu zu erfinden. Das Bahnsystem, das sich in
einem tödlichen Konkurrenzkampf mit der Strasse befindet, muss effizienter
werden. Auch dafür setzt sich der SEV ein.
Apropos
tödlicher Konkurrenzkampf: Diesen Montag traf sich Verkehrsminister
Leuenberger mit den Anrainerkantonen der A2. Diskutiert wurden Massnahmen
gegen die Lastwagenstaus in der Schweiz. Vom Hauptübel, den fehlenden
Verlagerungsangeboten Strasse-Schiene der SBB, war allerdings nicht
die Rede.
Mich ärgert,
dass die Behörden diese Staus nicht primär in Verbindung bringen mit
einer Zunahme des Verkehrsvolumens. Vielmehr machen sie dafür Abfertigungsprobleme
am Zoll verantwortlich. Wenn dem so wäre: Warum will man die vorgesehenen
baulichen Verbesserungen am Zoll dann erst in zwei Jahren beendet haben?
Ich verstehe das nicht. Aber nicht nur das. Nach den fulminanten politischen
Erfolgen des öffentlichen Verkehrs in den letzten Jahren (Alpenschutz-Artikel,
LSVA, FinöV etc.) hätte ich eigentlich erwartet, dass die SBB mit ihren
Marketingabteilungen überall und laut für ihre Verlagerungsangebote
auf die Schiene werben würden, und zwar spätestens seit jenem Tag, an
dem man höhere Lasten im Transitverkehr zugelassen hat. Nichts davon
geschah. Im Gegenteil: Die Einführung der rollenden Landstrasse hat
man immer wieder hinausgeschoben. Und ausgerechnet jetzt, wo sich die
Staus häufen, hat SBB-Cargo nichts Gescheiteres zu tun, als seine Büros
nach Basel zu zügeln. Ich habe immer gemeint, die SBB seien eine Transport-
und keine Zügelfirma!
Es gibt
SPlerinnen und SPler, die sehen Sie nicht als Gewerkschaftspräsidenten,
sondern als Chef eines bewegungspolitischen Kamikaze-Kommandos, das
so unsinnige Referenden unterstützt wie jenes gegen das Bundespersonalgesetz.
Wie fühlt man sich als Kamikazekommando-Chef?
Ich fühlte
mich nicht angesprochen vom entsprechenden Passus im «Gurtenmanifest»,
auf den Sie wohl anspielen. Auch ich bin nämlich der Meinung, dass es
Volksbegehren gibt, die inhaltlich zwar toll, aber schlicht nicht zu
gewinnen sind, und darum die Frage aufwerfen, was die ganze Übung eigentlich
soll. Ich meine damit nicht das Referendum gegen das Bundespersonalgesetz.
Es war unausweichlich, weil das Parlament wesentliche Versprechungen,
die es dem Personal anlässlich von Bahn- und PTT-Reform gemacht hatte,
nicht ins Gesetz aufnehmen wollte. Ich meine zum Beispiel die Tempo-30-Initiative.
Schon ganz früh warnte ich die Initianten vor der kontraproduktiven
Wirkung einer Abstimmungsniederlage. Der Kamikaze-Kritik des «Gurtenmanifests»
kann ich mich deshalb teilweise sogar anschliessen.
Keine
grundsätzlichen Differenzen also zum «Gurtenmanifest»?
Ich habe
es interessiert und als Meinungsäusserungen von Einzelpersonen zur Kenntnis
genommen.
Jetzt
mal ehrlich: Was haben Sie gedacht beim Lesen des Manifests?
Ich stellte
fest, dass es die soziale Frage elegant umschifft, was natürlich nicht
angeht. Denn die soziale Frage muss die Grundfrage jeder Gewerkschaft
und sozialdemokratischen Partei sein. Eine SP, die nicht länger willig
oder fähig ist, sich mit den zunehmenden sozialen Problemen zu befassen,
macht sich selber überflüssig. Eher belustigt hat mich, dass das «Gurtenmanifest»
Diskussionen aus den späten fünfziger Jahren neu aufleben lässt. Bis
hin zur Diktion ähnelt die Debatte jener im Vorfeld des Godesberger
Programms der SPD und des Winterthurer Programms der SPS. SP-Bundesrat
Max Weber sagte damals: «Wir sind jetzt eine Volkspartei und müssen
die marxistischen Denkansätze verlassen. Historisch gesehen befinden
wir uns nämlich auf dem Weg von einer kapitalistischen zu einer sozialen
Gesellschaft.» Mit «sozialer Gesellschaft» meinte der Zürcher den schweizerischen
Sozialstaat nach der Einführung der AHV 1947. Leider verkannte Weber,
dass die Grundstruktur unserer Wirtschaftsordnung auch nach 1947 exakt
dieselbe wie im 19. Jahrhundert geblieben war. Das «Gurtenmanifest»
erinnert mich aber auch an den Landesring- und Migrosgründer Gottlieb
Duttweiler. Er sagte, es gebe kein Klassen-, sondern nur ein Konsumentenproblem.
Dieselbe Geschichte scheint sich jetzt zu wiederholen …
Sie
meinen Simonetta Sommaruga?
… es ist
wie weiland bei Ueli Götsch. Er war kantonalzürcherischer SP-Parteisekretär
und Nationalrat und verstieg sich zu Beginn der sechziger Jahre in der
«Roten Revue» zur These, die SP müsse sich dringend von einer Arbeiter-
in eine Volkspartei umwandeln. Götsch prägte damals den unsäglichen
Satz: «Vom Hilfsarbeiter bis zum Generaldirektor sind alle Arbeitnehmer.»
Der
Arbeiter stirbt aus, alles ist nur noch Mittelschicht. Die SP muss deshalb
auf die Mittelschicht setzen. So tönt das heute beim Berner Sozialdemokraten
Ruedi Strahm. Sind Sie mit Strahm einverstanden?
Selten
wurde bisher der Begriff der Mittelschicht derart schwammig gebraucht
wie bei ihm. Selbst wenn man versucht, den Begriff via Einkommensklassen
zu definieren, gibt es in den unteren Einkommenskategorien immer noch
gewaltige Bevölkerungsteile, die dringend auf die Schutzmacht von SP
und Gewerkschaften angewiesen sind. In letzter Zeit konnte man zudem
vermehrt beobachten, dass sich Berufsgruppen politisch zu Wort melden,
die bisher wenig gewerkschaftlich orientiert waren. Ich war zum Beispiel
sehr angenehm überrascht, als sich der Schweizerische Bankpersonalverband
beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund assoziierte. Und ich war hoch
erfreut, als sich das Spitalpersonal im Kanton Bern und anderswo lautstark
bemerkbar machte. Beide Phänomene zeigen, dass sich die Arbeitnehmenden
in der Schweiz bewusster werden, dass sie sich für ihre Anliegen zur
Wehr setzen müssen. Die soziale Frage ist eben nicht gelöst. Die Umverteilungskämpfe
sind in vollem Gange.
Herr
Leuenberger, sind Sie vielleicht gar ein Ideologe?
Ich bin
ein sozialdemokratisches Urgestein.
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