
Ansprache
von Ernst Leuenberger, Nationalratspräsident, an der Feier 150 Jahre
Bundesstaat in Bern am 12.9.98
Der 12.
September 1848 ist und bleibt ein Glückstag für die Schweiz. Die Annahme
der Bundesverfassung setzte damals einen markanten Punkt nach einer
langen Vorgeschichte. Einer Vorgeschichte mit Stationen, die heute nicht
alle nur gute Erinnerungen wecken.
Der Einmarsch
der französischen Revolutionsheere vom Frühling 1798 gehört dazu.Die
Errichtung der helvetischen Republik mit bleibenden Errungenschaften
wie der Aufhebung der Untertanenverhältnisse, der Deklaration der Menschenrechte
gehört auch dazu.
- Das
helvetisch-französische Drama von Nidwalden im September 1798 gehört
dazu.
- Die
Wirren am Ende der Helvetik sind Stationen dieses Weges.
- Der
glücklicherweise nur kurz dauernde Sonderbundskrieg ist eine Station.
- Der
Versuch benachbarter Mächte, die Entstehung dieses liberal-demokratischen
Staates im Herzen Europas zu verhindern, gehört dazu.
Dass im
übrigen auch die neue Bundesverfassung von 1848 erhebliche Konzessionen
an den bösen Zeitgeist machen musste, zeigt etwa die Verfassungsbestimmung,
wonach die Niederlassungsfreiheit nur für Schweizer christlicher Konfession
galt.
Ohne politischen,
kulturellen Austausch über alle Landesgrenzen hinweg, wäre die heute
gefeierte Bundesverfassung nicht möglich geworden.
Die mutigen,
entschlossenen liberal-radikalen Staatsgründer von 1848 wären aufgeschmissen
gewesen, hätten sie nicht die französisch inspirierte Verfassung der
damals jungen USA zum Vorbild nehmen können. Mindestens unser heute
geltendes parlamentarisches Zweikammersystem und die auf vier Jahre
fest gewählte Staatsleitung sind bekanntlich dem US-System subtil nachempfunden.
Ohne intensiven
Austausch mit der Vormärzbewegung in Wien, in Berlin, Frankfurt, Paris
und Italien ist die Bundesstaatsgründung von 1848 undenkbar. Es ist
wohl kein Zufall, dass die Verfassungsgebung in der Schweiz im Schnellzugstempo
erfolgte während die konservativen Monarchen in Wien und Preussen sich
mit dem Völkerfrühling beschäftigten, dem Aufstand der Liberalen in
jenen Ländern.
Der Bundesstaat
Schweiz hat seine Bewährungsproben in den letzten 150 Jahren bestanden.
Der Generalstreik
von 1918 hat die Verantwortlichen und die Verantwortungsbewussten gelehrt,
dass sozialer Ausgleich im Innern zu den tragenden Säulen einer modernen
Schweiz gehören muss.
Zwei Weltkriege,
die um unsere Grenzen tobten, haben gezeigt, wie wichtig selbst unter
extremen Bedingungen Schweizer Solidarität ist. Eine humanitäre Flüchtlingspolitik
bleibt eine unabdingbare Aufgabe einer humanen und offenen Schweiz,
die den sozialen Ausgleich weltweit im Auge behält.
So lehrt
uns die Geschichte: Die Schweiz hat gedanklich, geistig, kulturell nie
als Insel existiert und ist es auch heute und in Zukunft nicht.
Isolation
ist nämlich keine Lösung, sondern eine Qual.
Als Illustration
für die These des Austauschs über die Landesgrenzen erwähne ich nur
die Tatsache, dass über 500 000 Schweizerinnen und Schweizer im Ausland
leben; während bei uns rund eine Million Menschen aus andern Ländern
lebt.
Wir Schweizerinnen
und Schweizer haben dabei eine ganz wichtige Erfahrung gemacht: Wer
selber einen klaren, gefestigten Standpunkt, einen Standort hat, begegnet
dem Fremden, dem Andern, damit auch dem Neuen offen, neugierig, ja lernbegierig.
Damit stellt
sich die Frage der Zukunft der Schweiz: Dieses Land braucht Zukunftprojekte.Als
Zukunftsprojekte zeigen sich uns mit unübersehbarer Deutlichkeit etwa
- die
Schweizer Solidarität mit den vom Elend Betroffenen dieser klein gewordenen
Welt. Der Bundesrat hat mit der Idee einer Solidaritätsstiftung einen
Weg aufgezeigt.
- Die
Schweiz braucht dringend eine Annäherung an EU-Europa. Es ist nicht
einzusehen, weshalb die Schweiz sich an diesem Friedenswerk nicht
beteiligen sollte.
- Die
Schweiz wird mit ihrer reichen Erfahrung in der UNO erwartet
- Die
Schweiz kann sich und Europa mit den grossen Bahnprojekten NEAT und
Bahn 2000 endlich eine moderne Bahninfrastruktur für das 21. Jahrhundert
geben
Wir haben
die Aufgabe, unserem Volk unsere Zukunftsvorstellungen zu zeigen. Wir
haben die Pflicht, auch mit der Jugend des Landes an der Idee Schweiz
weiterzuarbeiten; mit jener Jugend, die jetzt zuhört und jener, die
pfeift.
Wir wollen
das tun grimmig entschlossen, fröhlichen Herzens und zukunftsgläubig
im Sinne der Staatsgründer von 1848.
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