Jubiläumssitzung «150 Jahre Bundesversammlung»

Freitag, 6. November 1998 14.30 h

Vorsitz: Leuenberger Ernst (S, SO) ___________________________________________________________ Herr Bundespräsident,
Frau Vizepräsidentin des Bundesrates,
meine Herren Bundesräte,
Herr Ständeratspräsident,
meine Damen und Herren Mitglieder des Ständerates und des Nationalrates, verehrte Referentin,
verehrte Referenten,
liebe Gäste,
liebe Fernsehzuschauerinnen und Fernsehzuschauer!

Diese Einleitung gibt mir Gelegenheit, die Abwesenheit von Herrn Bundesrat Moritz Leuenberger zu entschuldigen, der eine unaufschiebbare Verpflichtung gegenüber dem französischen Verkehrsminister hat. Vielleicht gelingt den beiden Herren etwas Zukunftsträchtiges!

Die Vereinigte Bundesversammlung tritt heute, gegen das Ende des Jubiläumsjahres «150 Jahre Bundesstaat», zu einer Festsitzung zusammen. Wir wollen damit zweierlei zum Ausdruck bringen:

1. Wir erinnern uns damit an den Montag, 6. November 1848, an den Tag, an welchem zum erstenmal in der Schweizer Geschichte die neu gewählten eidgenössischen Räte tagten. Ein Blick in die damaligen Ratssäle mag für Sie höchst interessant sein: Der Nationalrat zählte an sich 111 Mitglieder, es waren aber noch nicht alle gewählt; es kamen also noch nicht 111 zusammen. Laut Erich Gruner, dem Berner Politologen, waren von diesen 111 Nationalratsmitgliedern 87, also 80 Prozent, den Radikalen zuzurechnen, 10 dem Liberalen Zentrum; zudem gab es 9 Katholisch-Konservative und 5 Evangelisch-Konservative. Im Ständerat herrschten ähnliche Verhältnisse: 30 Radikale, 8 vom Liberalen Zentrum und 6 Katholisch-Konservative.

Für historisch Interessierte mag es ausserdem interessant sein, hier zu vernehmen, dass die erste Sitzung des Nationalrates im alten «Casino» stattfand, das just an der Stelle unseres heutigen Parlamentsgebäudes stand. Nationalratspräsident wurde der Berner Ulrich Ochsenbein, aus Nidau – von den Konservativen auch als «Freischarengeneral» bezeichnet. Dem Ständerat wurde das «Rathaus zum Äusseren Stand» an der Zeughausgasse als Tagungslokal zur Verfügung gestellt. Erster Ständeratspräsident wurde Jonas Furrer aus Winterthur. Beide waren nur rund zwei Wochen lang Ratspräsidenten; beide wurden nämlich zehn Tage später in den ersten Bundesrat gewählt, Herr Jonas Furrer gleich auch zum Bundespräsidenten.

2. Wir wollen uns vom Zukunftsglauben der Staatsgründer von 1848 «etwas anstecken lassen» und uns heute Gedanken über die Zukunft unseres Wirkens, über die Zukunft der Politik, über die Zukunft der Institutionen und über die Zukunft unseres Landes machen. Sie erinnern sich an die Anlässe dieses Jubiläumsjahres: Am vergangenen 4. Juni hat der Bundesrat die Staatsoberhäupter der fünf benachbarten Staaten, die Vertreterin der Präsi-dentschaft der Europäischen Union und eine Vertreterin der Uno in diesem Saal empfangen, um die heutige schweizerische Verbundenheit mit unseren Nachbarländern, mit Europa und mit der ganzen Welt zu betonen. Sie erinnern sich ebenfalls des 12. Septembers, als der Bundesrat die Kantonsregierungen, Vertreterinnen und Vertreter der Jugend, Vertreterinnen und Vertreter von Wissenschaft und Kultur auf dem Bundesplatz empfangen hat. Dieser Anlass hat an den 12. September 1848 erinnert, an den Tag, als die Tagsatzung zusammentrat, um die Annahme der Bundesverfassung durch Volk und Stände festzustellen.

Junge Leute haben am 12. September 1998 in Tanz und Aktion die heutige und zukünftige Schweiz, «ihre» Schweiz, zur Darstellung gebracht. Wir wollen diesen jungen Leuten heute von hier aus nochmals für dieses eindrückliche Engagement und ihre Darbietungen danken.

Ich darf sodann einige Anwesende ausserhalb des «Normal-bestandes» der Vereinigten Bundesversammlung speziell begrüssen: Ich begrüsse als externe Referentin und externe Referenten die Philosophin Annemarie Pieper aus Basel, den Architekten Mario Botta aus Lugano und den Historiker Jean-Claude Favez aus Genf.

Ich begrüsse sodann mit Freude die Vertretungen aller sechsundzwanzig kantonalen Parlamente und werte die Teilnahme der Präsidentinnen bzw. Präsidenten der Kantonsräte, der Landräte, der Grossen Räte und des Parlement ju-rassien als Ausdruck des Willens, den Föderalismus als Ge-staltungselement schweizerischer Politik zu leben und sinnvoll weiterzuentwickeln. Es ist mir etwas sehr Positives aufgefallen: Zehn von sechsundzwanzig kantonalen Parla-menten werden derzeit von Präsidentinnen geleitet, was immerhin eine Quote von 40 Prozent ausmacht und gewiss zu-kunftsversprechend ist. (Beifall)

Besonders willkommen heissen darf ich sodann die ehemaligen Mitglieder des Bundesrates sowie die Damen und Herren alt Präsidentinnen und alt Präsidenten des Nationalrates und des Ständerates. Ich begrüsse sodann die Präsidenten des Bundesgerichtes und des Eidgenössischen Versiche-rungsgerichtes. Unser Gruss gilt weiter den Damen und Herren Chefbeamtinnen und Chefbeamten des Bundes.

Es freut uns auch immer wieder, wenn wir die städtischen Behörden von Bern bei uns begrüssen dürfen, heute angeführt durch die Frau Stadtratspräsidentin und den Herrn Stadtpräsidenten. Die Bundesversammlung ist den städtischen Behörden von Bern dankbar, dass sie den eidgenössischen Räten, der Bundesverwaltung und selbstverständlich dem Bundesrat seit 150 Jahren Gastrecht gewähren. Der Herr Stadtpräsident weiss sogar zu berichten, dass der erste Bundesrat mangels eines eigenen Gebäudes jeweils im Erlacherhof getagt habe, dort, wo heute die Stadtregierung ihre Sitzungen durchführt. Die Tatsache, dass die städtischen Behörden demnächst eine Jubiläumsfeier durchführen, um an den Tag zu erinnern, als die Parlamentskammern beschlossen, Bern zur Bundesstadt zu bestimmen – dass sie diesen Anlass feierlich begehen –, werten wir als Zeichen dafür, dass sie uns noch eine Zeitlang behalten wollen.

Ich begrüsse sodann die Medienschaffenden, die den Behörden aller Stufen immer wieder helfen, ihre Botschaften in allen Gegenden des Landes zu verbreiten. Medienschaffende auch, die geschützt durch die verfassungsmässig verbriefte Pressefreiheit ihre Arbeit, mal wohlwollend beobachtend, mal eher kritisch würdigend, zum Wohle von Land und Volk ausüben oder mindestens ausüben wollen. Gewiss, ohne Spannungen zwischen Behörden und Medienschaffenden ist das nicht zu haben. Der grosse – leider verstorbene – Publizist Oskar Reck hat jeweils gesagt: Dort, wo keine Spannungen zwischen Medien und politisch Handelnden bestünden, herrsche nicht Demokratie, sondern Diktatur.

Ich heisse auch alle jetzt nicht namentlich erwähnten Gäste bei uns sehr herzlich willkommen!

Ich erlaube mir, in zwei, drei Worten auch auf die Zukunft dieses Landes einzugehen und zu unterstreichen, dass wir, dieses Land, dieses Volk, Zukunftsprojekte brauchen. Wir brauchen die Begeisterungsfähigkeit weitester Kreise für Zukunftsprojekte; wir brauchen aber auch den unverbrüchlichen Glauben an die Zukunft dieses Landes Schweiz. Zentral ist der Wille zur Innovation in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Was wäre denn – wie Ernst Bloch einmal gefragt hat – menschlicher, als über das hinauszugehen, was ist? Natürlich werden in diesem Zukunftsdiskurs einige Leute auch Horrorvisionen entwickeln. Ich füge bei: Auch das brauchen wir aus dialektischen Gründen. Dieses Land hat eine Zukunft. Dieses Land hat Zukunftsprojekte. Ich nenne: Schweizer Solidarität mit den vom Elend in der weiten Welt Betroffenen tut not. Die Idee der Solidaritätsstiftung zeigt den Weg, die Weiterentwicklung der humanitären Tradition ist die Verpflichtung dazu.

Die Schweiz braucht kreatives Arbeiten an neuen Modellen des sozialen Ausgleiches. Ich denke z. B. an die Verteilung der Arbeit auf alle arbeitswilligen und arbeitsfähigen «Hände und Köpfe», auch das ist ein Zukunftsprojekt. Denn ohne so- zialen Ausgleich ist diese Schweiz nicht vorstellbar. Und nicht von ungefähr gehörten zu den grössten Bewährungsproben des heute 150jährigen Bundesstaates der Generalstreik vom November 1918 und das anschliessende jahrzehntelange Ringen um den sozialen Ausgleich. Die Schweiz braucht die Annäherung an Europa. Die Europäische Union ist nämlich auch ein Friedenswerk, an dem mitzugestalten eine vornehme schweizerische Aufgabe sein könnte. Die Schweiz mit ihrer reichen Erfahrung als Friedensstifterin wird in den Vereinten Nationen, in der Uno, er-wartet. Und zuletzt, aber nicht das Mindeste: Endlich wird sich diese Schweiz zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine zeitgemässe, moderne Bahninfrastruktur geben. Auch das ein Zukunftsprojekt. (Teilweise Unruhe) Wir haben die Aufgabe, unserem Volk Zukunftsvorstellungen aufzuzeigen. Wir haben die Pflicht, für kommende Generationen an der «Idee Schweiz» weiterzuarbeiten. Wir wollen das entschlossen tun, fröhlichen Herzens und offenen Sinns, zur Ehre der Staatsgründer von 1848. (Beifall)

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