Ernst Leuenberger, Wahl zum Nationalratspräsidenten

(01. Dezember 1997)

:Ich danke Ihnen für die Wahl.

Der Nationalrat hat zum ersten Mal in seiner Geschichte einen aktiven Gewerkschaftsprofi zum Präsidenten gewählt. Das bedeutet mir viel. Es bedeutet für mich Anerkennung der Rolle der Gewerkschaften in einer wirtschaftlich und sozial schwierigen Zeit. Es bedeutet für mich ein Ja dieses Parlaments zum Gedanken der Vertrags- und Sozialpartnerschaft in Zeiten des Strukturwandels, der hohen Arbeitslosigkeit und aufbrechender sozialer Konflikte. Sozialer Ausgleich, sozialer Friede im Lande muss immer wieder erarbeitet, erdauert, erkämpft und ausgehandelt werden. Sozialer Friede kann niemals ein Diktatfriede sein.

Einige von uns werden sich im November 1998 daran erinnern, dass vor 80 Jahren der Generalstreik von 1918 die sozialen Gegensätze in diesem Lande in härtester Form aufbrechen liess und das Land vor eine ganz grosse Bewährungsprobe stellte. Gerade dieses Ereignis ist mir persönlich wichtig und soll uns allen immer wieder zeigen, wie wichtig sozialer Ausgleich und sozialer Friede für dieses Land sind.

Meine Gedanken weilen denn in diesem feierlichen Augenblick bei den Arbeiterinnen und Arbeitern des Stahlwerkes Gerlafingen, die täglich um ihre Arbeitsplätze kämpfen und wo mein Vater als Kranführer ein Leben lang gearbeitet und das Brot verdient hat, das meine Geschwister und ich in Kindheitstagen gegessen haben.

Diese Wahl bedeutet sicher auch einen Akt der Anerkennung an die Mitarbeitenden im Service public: an den öffentlichen Dienst ganz allgemein und an meine Eisenbahnerinnen und Eisenbahner ganz besonders. Gerade sie, die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner, haben grosse Erwartungen an die politischen Behörden dieses Landes. Sie erhoffen sich eindeutige Signale für die Weiterentwicklung des öffentlichen Verkehrs. Sie erwarten dies nicht zuletzt im Hinblick auf den 20. Februar 1998. An diesem Tag nämlich werden genau hundert Jahre vergangen sein, seitdem das Schweizervolk unter dem eingängigen Slogan "Die Schweizer Bahnen dem Schweizervolk" in einer denkwürdigen Volksabstimmung die grossen Bahnlinien verstaatlicht und zu den SBB vereinigt hat.

1998 feiern wir 150 Jahre Bundesstaat, 150 Jahre Verfassung von 1848. Wir werden damit zum Ausdruck bringen, dass die moderne viersprachige Schweiz, die moderne Schweiz der religiösen Toleranz 1848 geboren ist. Wir werden uns dannzumal auch Rechenschaft darüber zu geben haben, dass dieser Bundesstaat das Resultat 50jähriger, härtester innenpolitischer Kämpfe und Auseinandersetzungen war.

Wer 1848 feiern will, ohne die Jahre von 1798 bis 1848 in seine Überlegungen mit einzubeziehen, greift in seinen Betrachtungen zu kurz. Ich will es noch unterstreichen: Die alte Eidgenossenschaft, das Ancien Régime, war weitestgehend eine deutschschweizerische Angelegenheit, der grösste Teil der Romands und der Tessiner waren damals Untertanen. Die moderne Schweiz, ich wiederhole es, ist 1848 entstanden.

Wir können uns heute bloss fragen, was wir denn heute machen müssten, um einen ähnlich grossen Schritt zu tun, wie ihn die Staatsgründer von 1848 gemacht haben. Meine Antwort, Sie vermuten es, deutet unmissverständlich auf die europäische Integration hin. Lassen Sie mich kurz einen Gedanken zu unserem Milizparlament äussern. Wir haben zwei Dinge: fixe, vorgegebene Sitzungszeiten einerseits und auf der anderen Seite eine zunehmende Geschäftslast. Wir sind - Herr Bremi hat das bereits 1990 als Nationalratspräsident an gleicher Stelle festgehalten - an die Grenzen der Belastbarkeit des Milizparlamentes gestossen. Wenn wir 1998 zusätzlich zu den ordentlichen Geschäften noch die Verfassungsrevision behandeln wollen, werden wir die Belastungsgrenzen des Milizparlamentes wohl überschreiten.

Ich darf mich dann an Frau Nationalratspräsidentin Judith Stamm wenden: Liebe Frau Präsidentin, liebe Judith, Sie haben 530 Stunden lang diesen Rat präsidiert - so hat man es berechnet. Sie haben versucht, zu lang redenden Bundesräten Gehör zu verschaffen. Sie haben versucht, das Bild des Parlamentes in der Öffentlichkeit zu verbessern. Sie haben als Parlamentspräsidentin Gäste von ausländischen Parlamenten empfangen, so aus Estland und Israel, aus Finnland, der Mongolei und den USA.

Sie haben Ihrerseits Polen und das polnische Parlament besucht. Sie haben die Präsidentin des Deutschen Bundestages getroffen, mit der Präsidentin des schwedischen Reichstages - Sie haben sie vor wenigen Minuten zitiert - debattiert. Sie haben vor dem Europarat in Strassburg gesprochen. Ich meine aber, Ihre bleibende Leistung als Parlamentspräsidentin ist eine andere: Sie haben ausser Programm sozusagen eine schweizerische Parlamentsdelegation in die USA geschickt, um dortigen Parlamentskreisen zu zeigen, welche Anstrengungen in der Schweiz unternommen werden, um dunkle Seiten unserer Geschichte aufzuarbeiten. Sie haben damit ein notwendiges und mutiges und, wie ich meine, bleibendes Zeichen gesetzt.

Sie haben, Frau Präsidentin, liebe Judith Stamm, vor dem Zionistenkongress in Basel gesprochen. Nicht nur haben Sie mit Ihrem vielbeachteten Auftritt dem Bundesrat aus einer argen Patsche geholfen, Sie haben in Basel jene Worte gefunden, die der schweizerischen und der Weltöffentlichkeit gezeigt haben, wie wichtig den schweizerischen Behörden heute das Suchen und das Finden der historischen Wahrheit ist. Sie haben glaubhaft machen können, dass es den Behörden der Schweiz ernst damit ist, wiedergutzumachen, was heute überhaupt noch wiedergutgemacht werden kann. Das sind wohl die nachhaltigsten Seiten Ihres Wirkens. Dafür danke ich Ihnen im Namen des Nationalrates von ganzem Herzen.

Dass wir, liebe Judith, hier auf den Klippen des Präsidiums uns vorzüglich verstanden haben, das will ich dankend beifügen, und ich darf sagen, es war ein gutes Jahr hier oben mit Dir, Judith. Und damit auch etwas bleibt, darf ich hier der staunenden Öffentlichkeit mitteilen, dass wir eines Deiner kleinen Werke nun perpetuieren wollen. Ich habe mich entschlossen, das Schild "Präsidentin" über dem Präsidialzimmer, das Judith Stamm hat anbringen lassen, dort ein weiteres Jahr stehenzulassen; zum einen aus Ersparnisgründen, damit man es nicht demontieren und wieder neu montieren muss, und zum andern, um einmal ein Jahr lang zu spüren, wie das eigentlich ist, wenn man unter einer Form mitgemeint ist. Alles Gute, Judith! (Beifall)

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