Die
5. IV-Gesetzesrevision: Erwartungen und Illusionen
Votum von
Ständerat Ernst Leuenberger, Solothurn, an der Einweihung des VEBO-Neubaus
«Berufliche
Massnahmen» am Freitag, 1. September 2006 in Oensingen
Vorgeschichte:
4. IV-Revision abgelehnt
In
den letzten Jahren ist die IV ständig in der öffentlichen
Diskussion. Und das nicht etwa deshalb, weil alle den Menschen mit Behinderung
besser helfen wollen, sondern ganz banal, weil die IV kostet und einige
wollen nicht bezahlen, was sie kostet.
Bekanntlich
ist 1999 die 4. IV-Revision mit fast 70% Neinstimmen vom Volk verworfen
worden als Signal gegen den Leistungsabbau. Die IV-Viertelsrente wurde
damit nicht abgeschafft.
Erster
Versuch zur Finanzsanierung der IV gescheitert
Am
16. Mai 2004 lehnten Volk und Stände mit 69% Neinstimmen eine Vorlage
ab, welche der IV 0.8 Mehrwertsteuer hätten bringen sollen. Die
Vorlage ist auch daran gescheitert, dass sie verbunden war mit einer
weiteren Mehrwertsteuererhöhung von 1% für die AHV.
1.8 zusätzliche
Mehrwertsteuerprozente auf einmal waren wohl etwas zu viel des Guten.
NFA
Kantonalisierung
Im
Rahmen des Neuen Finanzausgleichs (NFA) wurde gegen den Widerstand von
Organsationen aus dem Behindertenbereich die Kantonalisierung massgebender
Teile der Invalidenbetreuung beschlossen in der Volksabstimmung vom
28. November 2004.
Ziele
der 5. IV-Revision
Gemäss
Botschaft: Seit
einigen Jahren steigt die Zahl der IV-Rentenbezügerinnen und bezüger
stetig an.
Dies bringt
sowohl soziale wie finanzielle Probleme mit sich. Die sozialen Probleme
sind darin begründet, dass immer mehr und immer jüngere Personen
vom Erwerbssleben ausgeschlossen sind.
Zweck
der Revision:
- Reduktion
der Zahl der Neurenten um 20%.
- Die
Ausgaben der IV senken.
- Negative
Anreize im Zusammenhang mit der Eingliederung beseitigen.
- Mittels
Sparmassnahmen einen substanziellen Beitrag zur finanziellen Gesundung
des Systems zu leisten.
Massnahmen:
- betroffene
Personen möglichst frühzeitig zu erfassen und zu begleiten
und die Erhaltung des noch bestehenden Arbeitsplatzes sicherzustelllen
- Unter
dem Titel Korrektur von negativen Anreizen wird ausgeführt zur
heutigen Situation. Diese führe dazu, dass gesundheitlich
beeinträchtige Personen nach Eintritt der Invalidität finanziell
besser dastehen als vorher. Resterwerbsfähigkeit soll genutzt
werden können ohne Kürzungen der IV-Leistungen für
die Betroffenen.
- Als
Sparmassnahmen werden namentlich erwähnt die Aufhebung des sog.
Karrierezuschlages und die Aufhebung der Zusatzrenten.
- Zur
finanziellen Sanierung gehöre auch die Anhebung der Mehrwertsteuer
um 0.8 Prozentpunkte; plus Anhebung der Lohnprozente um 0.1%.
Würdigung:
Nachdem
sowohl Nationalrat wie auch Ständerat die Vorlage im ersten Umgang
mit wenigen verbleibenden Differenzen beraten haben, steht fest:
- Auf
der Finanzierungsseite soll vorläufig noch nichts geschehen.
Die bürgerliche Mehrheit in beiden Parlamenten will davon noch
nichts wissen. Das gefährdet die Vorlage bereits stark um nicht
mehr zu sagen.
- Ich
kann nur festhalten, dass die dringend nötige Finanzspritze für
die IV letzlich an jenen bürgerlichen Politikern/innen scheitern
muss, die als vorrangiges und oft einziges politisches Ziel Steuersenkungen
verfolgen.
- Der
Grundsatz Eingliederung vor Rente ist einerseits uralt
und wird andrerseits stets neu erhoben; in einem Wort: absolut unbestritten.
Nur hapert es bei der Umsetzung. Wer muss diesen Grundsatz umsetzen?
Es braucht geeignete Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung.
Arbeitsplätze bieten die Arbeitgeber an. Es darf hier lobend
erwähnt werden, dass es tatsächlich Arbeitgeber gibt, die
Menschen mit Behinderung Arbeitsplätze anbieten. Ihnen sei Dank
und Anerkennung ausgesprochen. Dennoch ist festzustellen: es gibt
immer noch viel zu wenig solche Arbeitsplätze. Und die Arbeitgeber
wehren sich mit Zähnen und Klauen dagegen, eine gesetzliche Verpflichtung
auferlegt zu erhalten, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen.
Es bleibt zu häufig bei schönen Versprechungen in Sonntagsreden.
In den
Kommissonshearings haben denn auch die Arbeitgeber den Tarif unmissverständlich
durchgegeben. Sie lehnen ab:
- Ausdehnung
des Kündigungsschutzes im OR.
- Einführung
einer Meldepflicht für Arbeitgeber
- Einführung
eines Quotensystems für die Betriebe
- finanzielle
Anreize wie Steuererleichterungen für Betriebe.
In dieser
Situation ist guter Rat teuer; d.h. die Eingliederung noch schwieriger.
Immerhin
ist es im Ständerat gelungen, IV-Beiträge an Betriebe durchzusetzen,
welche eine Person mit Behinderung weiterbeschäftigen.
Erwähnt
sei in diesem Zusammenhang auch die unsinnige Forderung, das AHV-Rentenalter
auf 67 Jahre zu erhöhen. Als ob es genügend Arbeit gäbe.
Ich muss
hier beifügen, dass das Wachstum der Zahl der IV-Rentner/innen
Ursachen in der allgemeinen Beschäftigungslage und in andern Zweigen
der Sozialversicherung hat.
Die lange
Phase hoher Arbeitslosigkeit in den ganzen Neunzigerjahren hat doch
dazu geführt, dass wegen der zeitlich begrenzten Leistungspflicht
der Arbeitslosenversicherung zunehmen ausgesteuerte Langzeitarbeitslose
invalidisiert worden sind. Wer bei der Arbeitslosenversicherung spart,
belastet damit die IV und die öffentliche Sozialhilfe.
Früherfassung
ist nur positiv zu würdigen. Frühes Einsetzen von Massnahmen
zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit erfordert aber viel Betreuung und
ist damit auch nicht gratis zu haben und stösst damit wohl an Grenzen
bei dieser Sparrevision der IV.
Aus meiner
Sicht ungelöst bleibt das Problem der Menschen mit einer psychischen
Behinderung. Ich stütze mich auf einen Aufsatz in der NZZ v. 10.10.05
von Dr. Ebner, Chefarzt Schaffhausen. Unter dem Titel Psychisch
Kranke sind schwer einzugliedern führt er aus: Als
allgemein anerkannt gilt die These, wonach mit steigenden Anforderungen
am Arbeitsplatz im Zuge eines hohen Produktivitätsdrucks Nischenarbeitsplätze
zunehmend verloren gegangen sind. Folgen haben diese Entwicklungen vor
allem für Menschen mit einer verminderten psychischen Belastbarkeit,
welche vermehrt aus dem Arbeitsprozess ausscheiden. Die in der
Revision geforderte Mitwirkungspflicht der Betroffenen sei aber bei
Menschen mit psychischer Behinderung kaum einzufordern und stosse daher
ins Leere. Auch die zeitliche Limitierung der Förderungsmassnahmen
helfe bei psychischen Leiden nicht wirklich.
Ich füge
bloss bei, dass neuerdings die SVP mit ihrer Kampagne gegen Scheininvalide
eine
fürchterliche und neue Diskrimierung psychisch Behinderter erfunden
hat. Der Missbrauchsverdacht trifft diese Menschengruppe besonders hart
und führt wie figura zeigt dazu, dass die Gefahr droht, Missbrauchsbekämpfung
schütte das Kind mit dem Bade aus.
Sie sehen,
meine Beurteilung der noch nicht definitv beschlossenen 5. IV-Revision
fällt nicht besonders positiv aus. Ich bin auch nicht sicher, ob
diese Revision ein allfälliges Referendum überleben würde.
Jedenfalls bin und bleibe ich persönlich der Meinung, die Finanzierung
sei in der gleichen Vorlage zu regeln wie allenfalls schmerzhafte Eingriffe
in das Leistungssystem.
Gratulation
zum Neubau. Dank für die Arbeit der VEBO
Eindeutig
positiver fällt meine Beurteilung der Arbeit, der Leistungen der
VEBO, ihrer Mitarbeitenden, ihrer Leitung aus. Bei aller Kritik an politischen
Vorgängen will ich in dieser Feierstunde der Einweihung des Neubaus
Berufliche Massnahmen nicht vergessen, den
Pionieren
und Akteuren der VEBO Dank und Anerkennung auszusprechen für ihre
täglich geleistete grosse Arbeit. Ich freue mich mit Ihnen über
Ihre Erfolge. Ich wünsche der VEBO weiterhin alles Gute und verbinde
das mit einer herzlichen Gratulation zum gelungenen Werk.
Möge
Ihre Arbeit weiterhin Früchte tragen im Dienste von Menschen mit
Behinderung und damit im Dienst der gesamten Gesellschaft.
Ernst Leuenberger,
Ständerat Solothurn
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