
Berufsmatur-Feier
Solothurn 2. Juli 2003
Gedanken
von Ernst Leuenberger, Ständerat, Solothurn
Herzliche
Gratulation Ihnen, liebe erfolgreiche Maturandinnen und Maturanden,
Glückwunsch, Ihnen, liebe Angehörige der jungen Erfolgreichen
Danke, auch an die Lehrerinnen und Lehrer, die erneut Ihre Klassen durch
die Prüfungen geführt und begleitet haben.
Sie, liebe
erfolgreich Geprüfte, haben in Ihrer Ausbildung ein wichtiges Etappenziel
erreicht. Sie haben gelernt, dass lebenslanges Lernen heutigen Berufsleuten
in Wirtschaft, Verwaltung, ja überall abverlangt wird. Sie sind
entschlossen, weiter zu lernen.
Ich soll
Ihnen heute sicher keine Rat-Schläge geben oder gar verabreichen.
Das haben Sie nicht verdient und würden es auch nicht goutieren.
Sie haben recht.
- Ich will
Ihnen auch nicht predigen, sie hätten mit der Matur ein Eintrittsbillet
für die besseren Plätze in der Gesellschaft erworben. Solch
elitärer Diskurs kann meine Sache nicht sein. Und im übrigen
bin ich kein Anhänger der Ellbogen-Gesellschaft
oder Elite-Gesellschaft, wo verkündet wird, wenn jeder für
sich selber schaut, ist für alle geschaut. Ich bin und bleibe Anhänger
der Idee der Gesellschaft als einer Solidargemeinschaft, wo wir
die Schwächsten in die Mitte nehmen.
Ich erlaube
mir, Ihnen einige Wünsche vorzutragen in der leisen Hoffnung,
daraus könnten für Sie Anregungen werden:
Ich wünsche
mir engagierte junge Menschen:
1. Ich
wünsche Ihnen ein geistiges Engagement , das Sie dazu bringt, den
Dingen auf den Grund gehen zu wollen. Erkenntnisse zu gewinnen, wissen
zu wollen, warum und wieso. Ich wünsche mir wahrheitssuchende junge
Menschen, die fragen und hinterfragen und es wissen wollen, genau wissen
wollen.
Als kaufmännisch
Ausgebildete können Sie rechnen und begreifen schneller als viele
Politiker, dass eine höhere Lebenserwartung (heute um die 80 Jahre;
vor 50 Jahren 10 Jahre weniger) ein längeres Rentnerleben bedeutet.
Und das kostet naturgemäss etwas. Und die Erhöhung des Rentenalters
bringt rein gar nichts, weil kaum ein Unternehmen bereit, eine/n über
60 jährigen neu anzustellen. Das ist politisch.
Lassen
wir das: Ich habe es gut gemeint, wissend, wie Brecht sagt, dass es
die Guten gibt und jene, die es gut meinen.
2.
Ich wünsche Ihnen gesellschaftliches Engagement. Die Vereinzelung
mitten in der Menge, der Rückzug ins rein Private, der Rückzug
auf das Ego führt nicht zur Glückseligkeit und wird uns Menschen
nicht gerecht. Wir sind eben soziale Wesen. Wirken Sie bitte gesellschaftsbildend;
entdecken Sie bitte die Menschen hier und weit über die Grenzen
dieses Ortes, dieser Region, dieses Landes, dieses Kontinents hinaus.
Pflegen
Sie die Gemeinschaft.
Entdecken
Sie die Faszination des Gesprächs im offenen Kreis, entdecken Sie
das Zusammenwirken in der offenen Gruppe. Bauen Sie an der Zivilgesellschaft.
Wenn der Philosoph Ernst Bloch gesagt hat, nichts sei menschlicher als
über das hinauszugehen, was ist, holt er damit die Menschen bei
ihren ewigen Sehnsüchten nach mehr, nach weiter, nach besser, nach
schöner ab. Utopia heisst dieser Traum in mannigfacher Ausgestaltung.
Leisten Sie sich den Luxus, gedankliche Ausflüge nach Utopia zu
unternehmen.
Wenn Ihnen Utopia zu weit entfernt scheint, unterbreite ich Ihnen als
Variante den Begriff Innovation mit dem Wunsch, dass es
Ihnen gelingen möge gedanklich über das vor der Haustüre
Liegende hinauszugehen.
Ich wünsche
Ihnen, dass Sie den Nutzen der verbalen, gedanklichen Auseinandersetzung
entdeckt haben oder noch entdecken. Ich meine die Wahrheitssuche durch
Rede und Gegenrede. Und ich meine das nicht im Sinne von Infotainement,
also nicht die Auseinandersetzung wie in der Arena. Nein ich meine,
dass es intellektuell anspruchsvoll und methodisch hilfreich sein kann,
zu jeder These eine Antithese zu formulieren und dann disputierend gemeinsam
nach der Synthese zu suchen, wissend, dass auch dieser Synthese gelegentlich
und notwendigerweise eine Antithese entgegengestellt werden wird und
werden muss, um damit zu beweisen, dass das Ende der Geschichte nicht
gekommen ist.
Oder
übersetzt in Bildersprache: Solange der Weissenstein steht, werden
die Leute in Solothurn fragen, was denn eigentlich hinter dem Weissenstein
ist. Neugierige werden gar selber nachsehen gehen.
Das Gegenteil davon wäre die Gurten-Geschichte:
Mutter, hat es hinter dem Gurten auch Leute?
Antwort: mir wie nid grüble.
3.
Ich wünsche Ihnen ein Engagement als Staatsbürgerinnen und
Staatsbürger, als Demokratinnen und Demokraten, als Mitgestaltende,
Mitdenkende, Mitwirkende im öffentlichen Leben, in der res publica.
Dieser
Wunsch ist aus dem Munde eines Politiker gewagt, weil ich weiss und
es auch fühle, dass einige von Ihnen von Politikern nicht besonders
viel halten. Es wird sich in Ihren Köpfen etwa das Bild festgesetzt
haben: dass Politikerinnen und Politiker stets nur an die nächste
Wahl denken; einige an das eigene Portemonnaie und die Populisten gar
nur an die nächste Ausgabe der Sonntagsblätter. Das alles
kenne ich wohl: Indessen gebe ich Ihnen zu bedenken, dass in der Demokratie
die öffentliche Sache, die Sache aller ist und sein muss.
- Ich biete
Ihnen die Variante an, über die vor 45 Jahren durch die UNO verkündeten
Menschenrechte nachzudenken und kann Sie vielleicht dazu verführen,
einen Teil Ihrer Energie in den täglichen weltweiten Kampf um die
Einhaltung oder die Wiederherstellung der Menschenrechte zu investieren.
Der Kampf um die Menschenrechte beginnt nämlich vor unserer Haustüre
täglich, stündlich im Kampf gegen die so alltäglich gewordene
Fremdenfeindlichkeit, gegen Rassismus.
-Ich kann
Ihnen auch harmlosere Engagements vorschlagen etwa mit dem Wunsch, an
Ihrer künftigen Fachhochschule in der studentischen Mitsprache
mitzuwirken.
-Sie können
sich politisch auch dafür einsetzen, dass künftige Berufsmaturanden
die gleichen Möglichkeiten haben werden wie die Gymnasialmaturanden.
Es wird
Zeit, meine Ausführungen zu beenden und die Kurve zu einem würdigen
Abschluss zu finden:
Was ich
Ihnen vortrage - ich merke es - entspringt meinem geheimen Wunsch, noch
einmal bei der Matur beginnen zu können. Noch einmal studieren;
noch einmal im fröhlichen Studikreis die Nächte durchdiskutieren
zu können, noch einmal mit Feuereifer die Wahrheitssuche zu beginnen,
Engagements eingehen zu können, die Welt zu verbessern.
Mir fällt dabei der Maturand Karl Marx: ein: Er soll in seinem
Maturaufsatz geschrieben haben: Schon 18 und noch nichts für
die Menschheit getan.
Heute ergeht
es mir nicht viel besser als dem jungen Marx, so dass ich bekenne, jetzt
endlich bemerkt zu haben, dass ich all die vorgetragenen Wünsche
auch an meine Generation, an mich selber formuliert habe.
Ich danke
Ihnen für Ihre Geduld, liebe fröhliche und erfolgreiche junge
Menschen.
Ich wünsche
Ihnen alles Gute auf Ihrem persönlichen und beruflichen Lebensweg.
Ich wünsche Ihnen jetzt fröhliche und erholsame Stunden und
Tage nach grosser Anstrengung.
Herzliche
Gratulation und danke für das Zuhören.
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